© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Nagelprobe für Schwarz-Gelb
Bundesversammlung: FDP und Union zittern vor der Wahl des neuen Bundespräsidenten vor Abweichlern aus den eigenen Reihen
Paul Rosen

Sicher für den Ablauf der 14. Bundesversammlung scheint bisher nur zu sein, daß Lukrezia Jochimsen (Linkspartei) nicht Bundespräsidentin werden wird – genausowenig übrigens der Liedermacher Frank Rennicke, den die NPD am Mittwoch im Berliner Reichstag ins Rennen schicken wird. Das Schicksal der Kandidaten der beiden großen Lager, der Bürgerlichen und der Rot-Grünen, gilt zwar als theoretisch offen, aber es bestehen klare Präferenzen für den schwarz-gelben Kandidaten, Niedersachsens Ministerpräsidenten Christian Wulff. Dem von SPD und Grünen nominierten Joachim  Gauck, dem Pfarrer und früheren Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, werden nur Außenseiterchancen bescheinigt. Seine Wahl wäre in der Tat der Anstoß zu einer Zeitenwende.

Auch wenn der Zustand der bürgerlichen Koalition in Berlin noch so miserabel ist, zeigt die Zusammensetzung der Bundesversammlung eindeutig, daß sie nur beim Aufbrechen tektonischer Risse in Reihen der Bürgerlichen zum Signal für einen Wechsel werden kann. Bisher sieht es für den smarten Kandidaten Wulff recht gut aus. Der Versammlung, die nur dem Zweck dient, den Präsidenten zu wählen, wobei auf eine Debatte verzichtet wird, gehören 1.244 Delegierte an. Die eine Hälfte sind Bundestagsabgeordnete, die andere Hälfte wird den 16 Länderparlamenten entsprechend der Stärke der jeweiligen Fraktionen nominiert.

Waren Union und FDP vor einem Jahr noch auf die Hilfe von zehn Delegierten der Freien Wähler aus dem bayerischen Landtag angewiesen, um den inzwischen zurückgetretenen Horst Köhler bereits im ersten Wahlgang wählen zu lassen (dafür ist wie im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen erforderlich), so hat sich das Bild durch die Bundestagswahl im September 2009 drastisch verändert. Union und FDP haben eine satte absolute Mehrheit von 21 Stimmen. Die CDU/CSU kommt auf 496 Mitglieder, die FDP auf 148. Das ergibt 644 Stimmen. Theoretisch könnten 20 bürgerliche Delegierte Gauck wählen. Wulff würde trotzdem noch Bundespräsident – und zwar im ersten Wahlgang.

Ein leichter Hauch von Zeitenwende

Es müßten sich schon Abweichler in erheblicher Menge hinter Gauck scharen, um ihm eine absolute Mehrheit zu besorgen. Denn die Sozialdemokraten bieten gerade 333 Stimmen auf, die Grünen haben 129. Zur absoluten Mehrheit fehlen 161 Stimmen. Daß sich Delegierte der Linkspartei (124 Stimmen) im ersten oder zweiten Wahlgang zu Gauck bekennen könnten, gilt als unwahrscheinlich, weil viele in früheren Bürgerrechtlern wie Gauck nach wie vor ein Problem sehen. Aber was sie im dritten Wahlgang machen würden, weiß man nicht. Die zehn Freien Wähler aus Bayern wollen zwar Gauck wählen, aber auch das wird noch nicht reichen. Außerdem gehört der Bundesversammlung noch ein Vertreter der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein an.

Es liegt nur ein ganz leichter Hauch von Zeitenwende in der Luft. Die zweite Kanzlerschaft von Angela Merkel ist schwer beschädigt. In Umfragen rangiert die FDP bei gerade noch fünf Prozent, in der politischen Stimmung liegt sie bei drei Prozent und die Gabriel-SPD vor der Union. Natürlich werden die CDU- und CSU-Delegierten treu und brav für Wulff stimmen. Mitten in der Furt sollte man bekanntlich die Pferde nicht wechseln. Eine Rebellion mit dem Stimmzettel in der Bundesversammlung würde nicht nur Wulff ins politische Abseits befördern, sondern bis zum Abend des 30. Juni auch den Rücktritt der ersten deutschen Kanzlerin zur Folge haben.

Die Frage ist nur, was die FDP macht. Nur wenige Mitglieder der liberalen Bundestagsfraktion könnten eventuell zu Gauck überlaufen. Die meisten haben ihre Pfründen wie Minister- und Staatssekretärsposten in der Regierung Merkel, sind ausgestattet mit Büros und Dienstwagen – das alles gibt man nicht so ohne weiteres auf, wenn die nächste Bundestagswahl noch drei Jahre auf sich warten läßt. Das Risiko liegt bei Länder-Delegierten, vielleicht auch bei einigen der Union. Aus bürgerlicher Sicht wäre es ein Spiel mit dem Feuer, in den ersten zwei Wahlgängen die Wahl von Wulff durch Stimmenthaltung zu verhindern und im dritten Wahlgang, wenn eine einfache Mehrheit reicht, ins Gauck-Lager zu wechseln, selbst wenn dieser gewiß ein guter Präsident wäre.

Der Wechsel zu Gauck könnte von Delegierten überlegt werden, die zur Ansicht gekommen sind, daß die nächsten Landtagswahlen (etwa in Baden-Württemberg) haushoch verlorengehen, wenn Merkel weiter regiert. Für diese Fälle könnten Gauck der Hebel sein, das bürgerliche Gebäude in Berlin zum Einsturz zu bringen. Denn die Koalition wäre mit einem Präsidenten Gauck zu Ende, in der CDU könnte sich der Erosionsprozeß beschleunigen. Aber daß der Mantel der Geschichte am 30. Juni 2010 in Deutschland wehen könnte, ist sehr unwahrscheinlich.

Foto: Die Lager der Kandidaten in der Bundesversammlung: Bislang haben lediglich drei sächsische FDP-Wahlmänner angekündigt, ihre Stimme abweichend zur Parteilinie abzugeben.

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