© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

www.wikileaks.com: Option auf die volle Wahrheit
Kampf gegen Vertuschungen
Bernd-Thomas Ramb

Wikipedia, das Internetlexikon, kennt nahezu jeder Internetnutzer, WikiLeaks dagegen kaum einer. Beide Internetangebote wollen schnell sein (wiki ist das hawaiianische Wort für „schnell“), und beide wollen informieren. Der Unterschied: Bei Wikipedia sind die Autoren bekannt, bei WikiLeaks werden sie geheimgehalten. Aus gutem Grund, denn in WikiLeaks werden geheime Informationen – insbesondere geheime Regierungspapiere – veröffentlicht, deren Inhalte nach Ansicht der Informanten von öffentlicher Bedeutung sind. Undichte Stellen oder Lecke (englisch leaks) in staatlichen Ämtern oder privaten Unternehmen bestanden schon immer, mit WikiLeaks haben sie eine technisch zeitgemäße Form gefunden.

WikiLeaks ist jedoch weitaus mehr als eine moderne Petz-Einrichtung. Der Verrat geheimer oder vertraulicher Informationen ist so alt wie die Absicht, bezüglich verborgener Einsichten und Kenntnisse Vertraulichkeit zu bewahren. Stets sieht der Verräter einen persönlichen Vorteil darin, die vereinbarte oder gesetzlich vorgeschriebene Vertraulichkeit zu brechen. In der Regel sind es finanzielle oder materielle Profite, die der Preisgeber politischer oder unternehmerischer Geheimnisse für sich einstreichen kann. Bei Wiki­Leaks ist das jedoch anders. Hier ist zum einen der Geheimnisverräter anonym; der potentielle Empfänger möglicher Zahlungen somit unbekannt. Entlohnt wird er gleichwohl. Sein Lohn besteht in der Genugtuung, das Geheimnis gelüftet zu haben.

Sollte der Informant ausnahmsweise vielleicht doch nicht so unbekannt sein, so sind selbst insgeheime Zahlungen an ihn unwahrscheinlich. Der materielle oder finanzielle Wert des Geheimnisverrats richtete sich nach der Exklusivität. Nur wer als einziger oder erster davon erfährt, kann die erkaufte Information gewinnbringend weiterverwerten. Der Enthüllungs- und der Sensationsjournalismus sind sattsam bekannte Beispiele für die Anwendung dieser Methode. Bei WikiLeaks aber erfährt es die gesamte Öffentlichkeit und, wie der Name sagt, auf schnellstem Wege – das ist die zweite Eigenart der Plattform. Die Neuigkeit und Neuwertigkeit dieser Informationen erlischt damit schlagartig. Nach dieser Form der Veröffentlichung ist damit kein Geld mehr zu machen.

Eine dritte Komponente von WikiLeaks kennzeichnet der moralisch-ethische Anspruch. Anonym Geheimnisse auszuplaudern, kann auch die Veröffentlichung von delikaten oder pikanten Privatangelegenheiten bedeuten, wenn beispielsweise Fotos eines Ehepartners beim Ehebruch oder neue technologische Entwicklungen eines Unternehmens vor ihrer Patentierung veröffentlicht werden.

Um dem vorzubeugen, haben sich die Gründer von WikiLeaks – Mathematiker und Technologen junger Unternehmen aus den USA, Taiwan, Europa, Australien und Südafrika sowie chinesische Dissidenten – eine Präambel gegeben. Sie wollen „denen zur Seite stehen, die unethisches Verhalten in ihren eigenen Regierungen und Unternehmen enthüllen wollen“.

In WikiLeaks wird also nicht alles veröffentlicht. Was auf diese Internet-seiten gelangt, ist jedoch authentisch und unzensiert – aber nicht sakrosankt. Hier setzt die technische Bedeutung des Wiki-Konzepts ein.

Ähnlich wie bei Wikipedia können die Internetnutzer die WikiLeaks-Beiträge kritisch kommentieren, Gegenbeweise vorbringen oder die ursprüngliche Aussage durch weitere Fakten ergänzen und erweitern. Die veröffentlichten Geheimnisse werden also zur Überprüfung freigegeben. Getürkte Scheinmeldungen haben nur geringe Überlebenschancen. WikiLeaks erhält mit dieser Konstruktion permanent die Option auf die volle Wahrheit aufrecht.

Die Offenheit ist allerdings zweischneidig. Manche Enthüllungen sind so spezifisch, daß der Kreis der Verräter schnell sehr eng wird. Die Gefahr, enttarnt zu werden, hat sich gerade im spektakulärsten Fall einer WikiLeaks-Veröffentlichung bestätigt, des Films über die gezielte Exekution irakischer Zivilisten durch das Maschinengewehrfeuer einer US-Militärhubschrauberbesatzung, bei der auch ein Kameramann der Nachrichtenagentur Reuters und sein Fahrer getötet wurden. Als WikiLeaks-Informant wurde der Gefreite Bradley Manning enttarnt, Mitarbeiter des US-militärischen Geheimdienstes und dort nach eigenem Bekunden jeden Tag den  grauenhaftesten Bildern ausgesetzt. Er wurde nun in Kuweit inhaftiert und unter Anklage des Geheimnisverrats gestellt. Die Nation ist gespalten. Viele feiern ihn als heldenhaften Aufklärer eines Massakers, das selbst das Pentagon als schockierend bezeichnet. Wer will, kann sich selbst ein Urteil bilden: www.wikileaks.com  

Foto: WikiLeaks-Internetauftritt: Was hier landet, ist authentisch und unzensiert

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