© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

EU-Integrationsprozess
Das europäische Dilemma
von Björn Schuhmacher

Das jahrzehntelange Fortschreiten „europäischer Integration“ verdankt sich auch einer listigen Begriffsverwirrung. Mit Geographie hat „Europa“ nicht mehr viel zu tun. Die am supranationalen Staat bastelnden politisch-ökonomischen Eliten hantieren mit Europa-Begriffen aus den Reagenzgläsern der Geschichts- und Kulturpolitik. Deren Inhalte bleiben ähnlich nebulös wie das Gender Mainstreaming. In beiden Fällen ist die begriffliche Unschärfe gewollt; bietet sie doch Schutz gegen kritische Analysen, die das jeweilige Projekt stören oder gar vereiteln könnten.

Ungeachtet dieser Vagheit schälen sich Konturen heraus. „Europa“ und „Europäer“ sollen Merkmale der bewährten Kultur- und Rechtsbegriffe Volk und Nation in sich aufnehmen. Die in Mahlstrom-Medien als „Lordsiegelbewahrer“ oder „Verteidiger der europäischen Idee“ gelobten Konzern- und Bankenlobbyisten faszinieren ihre Zuhörer mit dem edlen Wort von der „Schicksalsgemeinschaft“. Skeptiker werden darüber belehrt, daß die Einheitswährung Euro eine „Frage von Krieg und Frieden“ sei. Die Blaupause dieses einschüchternden Geschichtsbilds lieferte Altbundeskanzler Helmut Kohl. Nicolas Sarkozy und Angela Merkel beteten sein Mantra nach, als sie neben den Interessen deutscher und französischer Sparer vor allem diejenigen ihrer Banken sichern wollten.

Die halluzinative Vorstellung von der EU-weiten Kultur- und Schicksalsgemeinschaft endete jäh im Frühjahr 2010. Ein ausufernder Sozialstaat Griechenland, der seinen Beitritt zur Euro-Zone mit Bilanzfälschungen erwirkt hatte, wurde auf Kosten der Steuerbürger in den EU-Geberländern kurzzeitig vor dem Bankrott bewahrt. Hinzu kam ein 750-Milliarden-„Rettungsschirm“ gegen Spekulationsattacken auf alle maroden EU-Staaten des Südens. Damit revanchierte sich „Napoleon“ Sarkozy für verlorene Schlachten eines französischen Volkshelden und bereitete Angela Merkel ein Waterloo der Währungsstabilität. Eine überforderte Kanzlerin beschönigte diesen Bruch geltenden EU-Rechts als „alternativlos“. Politische Statur, Prinzipientreue, Rechts- und Geschichtsbewußtsein fehlten ihr auch bei der Weiterreise. In Moskau feierte sie einen Sieg der Roten Armee, der Hitlers Terror in Ost- und Mitteleuropa durch die Schreckensherrschaft Stalins ersetzt hatte.    

Daraus folgt zweierlei: Erstens hat die EU neben ihrer die Märkte bedienenden kapitalistischen auch eine schmerzhafte sozialistische Komponente, nämlich eine dauerhafte Umvertei-lungs-„Pipeline“ (Berthold Kohler) vom produktiven Norden in einen eher genußfreudigen Süden. Zweitens läßt die Alternative „Krieg oder Frieden“ auch sinnvolle Interpretationen zu − allerdings in markantem Gegensatz zu den Geschichtsdeutungen Helmut Kohls. Je länger die südliche Euro-Zone am Tropf des sozialistischen Geldtransfers hängt, desto mehr Zwietracht wird zwischen den Völkern gesät. Die Euro-Zone mit ihrer Verteilungsungerechtigkeit könnte zum Totengräber eines jetzt noch friedlichen Kontinents werden.

Dazu dürften sich die Deformierung des Euro zur Weichwährung, Inflationsschübe, Steuererhöhungen und eine weniger denn je beherrschbare Staatsverschuldung gesellen. Leidtragende dieser Entwicklung sind der fleißige, investitionsbereite Mittelstand sowie Geringverdiener, Sozialhilfeempfänger, Rentner und Sparer, die jeden Pfennig umdrehen müssen. Daß weder die real existierende EU noch der von politisch-ökonomischen Eliten herbeigesehnte Zentralstaat den Völkern mit hohem Bruttosozialprodukt weiterhelfen, liegt auf der Hand.

Logischerweise kommt Demokratie in den Bauplänen „Europas“ höchstens als beschwichtigende Schablone vor. Das sogenannte Europäische Parlament ist keine Volksvertretung, sondern ein Placebo-Gremium; die von ihm „vertretene“ europäische Bevölkerung erfüllt nicht den Begriff des Demos im Sinne einer Sprach-, Kultur- oder Schicksalsgemeinschaft. Zudem verstößt die Zusammensetzung dieses kompetenzarmen Gesprächszirkels gegen demokratische Basisprinzipien. Die Stimme eines Luxemburgers zählt dort dreizehnmal soviel wie die eines Deutschen.

Wer auf die Rechte des Souveräns pocht und Volksabstimmungen zu den Verträgen von Maastricht oder Lissabon anmahnt, ist ein von Merkel, Sarkozy, Juncker und anderen EU-Netzwerkern milde belächelter Idealist. Da auch der Deutsche Bundestag seine Wächterrolle kaum wahrnimmt, bleibt fast nur die Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht. Aber was wird geschehen, wenn diese Bastion der Freiheit, deren Lissabon-Urteil die Errichtung eines europäischen Bundesstaats an eine verbindliche Volksabstimmung nach Art. 146 GG knüpft, den Angriffen demokratieunwilliger Eurokraten nicht mehr standhalten sollte? Hilft dann Art. 20 Abs. 4 GG, wonach alle Deutschen das Recht zum Widerstand gegen Unternehmungen zur Beseitigung der grundgesetzlichen Ordnung haben, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist?

Dieses Widerstandsrecht ergänzt die aus Deutschlands Tragödien erwachsende rechtsethische Pflicht zum Erhalt von Freiheit und Demokratie. Traditioneller Bestandteil vieler Naturrechtslehren, wurde es 1968 per Notstandsgesetzgebung in die Verfassung implementiert. Inhaltlich trifft sich das Widerstandsrecht mit der Forderung nach einem „Freiheitskampf“ (Bernd-Thomas Ramb) für Deutschland und Europa und steht in der nationalliberalen Tradition des Hambacher Fests von 1832. Da die meisten EU-Befürworter nicht von einem totalitären Staatsverständnis, sondern von romantisierender Gemeinschaftssehnsucht sowie einem erstaunlich vitalen Glauben an den Erfolg des Euro geleitet werden, sollte der „Widerstand“ mit breiter Aufklärung über die Brüsseler Wirtschaftsdiktatur beginnen. Wir brauchen, so der nationalistischer Wallungen unverdächtige Jürgen Habermas, eine „diskursive Streitkultur mit einem Höchstmaß an Information“. „Auf den Marktplätzen“ sollten sich die Politiker den Fragen des Volkes stellen. Der Weg dorthin wird steinig, aber wenn nicht alles täuscht, entwickeln sich einige freiheitliche Printmedien und zunehmend auch Netzseiten zu „Marktplätzen“.

Gleichwohl hat die Idee europäischer Solidarität einen berechtigten (und speziell im deutschen Volk als berechtigt empfundenen) Kern, ohne den die plumpe Stilisierung des Euro zum Friedensstifter nicht den Hauch einer Glaubwürdigkeitschance gehabt hätte. FAZ-Leitartikler Berthold Kohler spitzt das in der Formulierung zu, die Zeitgenossen des „großen alten Europäers Helmut Kohl“ sowie deren Eltern und Großeltern hätten noch „die Leichen aus den zerbombten Häusern tragen“ müssen. War also die Friedenssehnsucht der Nachkriegsjahre eine direkte Folge westalliierter Stadtvernichtungsbombardements; waren Dresden, Hamburg, Kassel oder Pforzheim frühe Katalysatoren einer quasistaatlichen EU?

Die Antworten fallen weniger eindeutig aus, als man vermuten mag. Das gilt für den gesamten europäischen Kontinent. Winston Churchill, wortgewaltiger Protagonist der Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg („die Zivilisation zu Staub zerstampfen“), forderte zwar 1946 die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ und erhielt 1956 den Karls­preis zu Aachen für Verdienste um die Einigung Europas. Zu keiner Zeit wollte er aber Großbritannien in diesen Prozeß einbeziehen. Bis heute profiliert sich das Land durch eine ambivalente Haltung zur EU, setzt mit unterschiedlicher Intensität auch auf eine privilegierte Partnerschaft mit den USA. Ungeachtet aktueller ökonomischer Turbulenzen spüren die Briten, daß die deutsche Staatsräson einer Blankohingabe an die Europäische Union die vielfältigen Interessen großer Industrienationen über kurz oder lang gefährden muß.

Ins Blickfeld drängt die spannende Frage, ob und mit welchen Mitteln ein beständiger Frieden zwischen den Völkern erzeugt werden kann. Systematisch beantwortet wurde sie von den neuzeitlichen Natur- bzw. Vernunftrechtslehren eines Hugo Grotius („De iure belli ac pacis“, 1625) und Samuel Pufendorf („De iure naturae et gentium“, 1672). Deren Denkgebäude gipfelt in der Vorstellung vom (Völker-)Recht als einer wirksamen Schranke gegen internationale Konflikte. Leitprinzip ist der von Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin übernommene Begriff des gerechten Krieges, den angeblich jene Partei führt, die – insbesondere zur Verteidigung des eigenen Territoriums – ein ius ad bellum, also ein Recht auf Krieg hat. Im Umkehrschluß läßt sich folgern, daß die andere Partei in Ermangelung dieses ius ad bellum keinen Krieg entfesseln darf.

Allerdings bewährten sich Grotius’ und Pufendorfs Ideen in der Praxis kaum. Kein einziger Fall ist dokumentiert, in dem neuzeitliches Friedensvölkerrecht den Aggressor von einem Waffengang abgehalten hätte. „Lauter leidige Tröster“ werden beide Völkerrechtler von einem in neue Dimensionen philosophischer Aufklärung vorstoßenden Immanuel Kant genannt. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795/96) entwirft Kant ein Modell der Friedenssicherung, das die Schaffung moderner innerstaatlicher Strukturen und gewisser supranationaler Verknüpfungen verlangt. Konkret fordert er republikanische Staatsverfassungen sowie einen völkerrechtlich abgesicherten „Föderalismus freier Staaten“.

Kants Ideen wirken fort. Einer seiner Nachfolger in der Tradition politischer Philosophie, der US-Amerikaner John Rawls, hielt 1993 Oxforder Vorlesungen über „das Recht der Völker“ (deutsche Buchausgabe 2002). Er trug vor, daß „wohlgeordnete Völker“, d. h. demokratisch verfaßte „liberale Völker“ sowie menschenrechtsbewußte „achtbare Völker“, keine Kriege gegeneinander führen, „sondern nur gegen nicht wohlgeordnete Staaten, die deren Sicherheit und freie Institutionen gefährden und den Krieg verursachen“.

Ungeachtet vertiefender, durchaus kritischer Analysen lassen sich Kant und Rawls dahin interpretieren, daß ein organisiertes Miteinander freier demokratischer Staaten den größtmöglichen Schutz gegen Krieg bietet. Diese Voraussetzung war in Mitteleuropa bereits 1957 mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erfüllt. Sie bedurfte nicht der Weiterentwicklung zur Maastricht-EU mit ihrer den Deutschen aufgezwungenen, die demokratische Idee beschädigenden Einheitswährung Euro. Soweit Kant einen „Föderalismus freier Staaten“ anregt, ist das ein Plädoyer für friedenssichernde Bündnisse bzw. einen Staatenbund, keinesfalls aber für weitergehende Verknüpfungen, mögen sie in beschönigender Diktion auch Staatenverbund usw. genannt werden. Seine Vorschläge treffen sich mit dem Modell eines aus souveränen, gleichberechtigten Staaten bestehenden „Europas der Vaterländer“ (Charles de Gaulle) mit gemeinsamer Verwurzelung in Christentum, Humanismus und Aufklärung.  

Berthold Kohler kennzeichnet die deutsche Mentalität über landsmannschaftliche Grenzen hinweg als „preußisch-schwäbische Art“. Diese originelle Synthese sollten andere Stämme nicht als Ausgrenzung empfinden. Das „Preußisch-Schwäbische“, so der abwägende Kohler, werde in Südeuropa als „verbissen“ wahrgenommen. Mag sein, aber sollen wir etwa das heutige Land der Griechen mit dem Herzen oder der Seele suchen und Schuldenberge auftürmen, die kein EU-Staat für uns Deutsche bezahlen würde? Ist nicht das griechische Wirtschaftsgebaren der Gipfel neuhellenischer Dekadenz? Wer anders als der in Stuttgart geborene Schwabe und über seine Berliner Lehrtätigkeit zum Gesinnungspreußen gewordene Georg Wilhelm Friedrich Hegel kann Kronzeuge der „preußisch-schwäbischen Art“ sein! In seiner Rechtsphilosophie analysiert er den im Original altgriechischen Sinnspruch „Hic Rhodus, hic salta“ und leitet daraus die Maxime „Hic rosa, hic salta“ ab.

In Hegels Begriffswelt bedeutet das: Hier ist die Vernunft, gebrauche sie! Ob ins heutige Griechenland und die anderen EU-Mittelmeerstaaten nachhaltige wirtschaftliche Vernunft einkehren wird, bleibt freilich abzuwarten. Wie soll ein die eigenen Grenzen auslotendes Kind zur Vernunft kommen, wenn es für seine Untaten mit neuem Spielzeug, sprich: großzügigen Krediten, Bürgschaften usw. belohnt wird?

Fast alles spricht dafür, die real existierende EU oder zumindest deren Euro-Zone aufzulösen und zu den nationalen Währungen zurückzukehren. Ein ökonomisch beherrschbares Ende mit Schrecken durch die dann möglichen Umschuldungen und Währungsabwertungen ist allemal besser als ein Schrecken ohne Ende.

Im übrigen gilt folgendes: Supranationale Verknüpfungen jenseits eines „Europas der Vaterländer“ sind entgegen den Beteuerungen lobbyistischer Eliten keine Selbstverständlichkeit. Sie sind eines von mehreren Gestaltungsangeboten zur Organisation des Alten Kontinents. Soweit die Organisation mit der Preisgabe elementarer nationaler Hoheitsrechte verbunden ist, bedarf sie eines Volksentscheids, also einer verbindlichen Abstimmung durch den betroffenen Souverän. Wer das nicht akzeptiert, hat ein prämodernes, autoritäres Verständnis von Herrschaft. Ein aufgeklärter Demokrat ist er nicht.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Er ist Verfasser der Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. ‘Morale Bombing’ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“, Graz 2008. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Kollektivschuld-Mythos („Mit Werturteilen sparsam umgehen“, JF 31-32/09).

Foto: Maskierte Macht: Demokratie kommt in den Bauplänen „Europas“ höchstens als beschwichtigende Schablone vor. Das sogenannte Europäische Parlament ist keine echte Volksvertretung, sondern eher ein Placebo-Gremium.

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