© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Travestie und Tradition
Zeichen der Selbstbefragung: In Berlin ist Frida Kahlos Lebenswerk zu sehen
Wolfgang Saur

In „Die gefiederte Schlange“, einem der gewichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts, entfaltet David H. Lawrence seine poetische Vision Mexikos. Er schildert ein degeneriertes Land und eine korrumpierte Kultur, in der das Leben grau wurde und die Herzen verstaubt – bis die Protagonistin auf eine religiöse Gruppe trifft, die die alten Kulte wiederbeleben will. Unter dem kolonialen Firnis regt sich noch der aztekische Funke, den es neu zu entfachen gilt. So zielt die Hoffnung auf eine Rückkehr der Götter. Sie werden das Land erlösen. Das Wunderbare wird uns „retten aus der Unfruchtbarkeit dieser verfaulten Welt“.

Eben das erstrebte die nationale Kulturbewegung Mexikos. Beim Wiederaufbau (seit 1920) suchten die heimischen Maler den öffentlichen Raum gestalterisch zu durchdringen, die neue Gemeinschaft bildnerisch zu stimulieren. Hauptvertreter waren Diego Rivera (1886–1957) und Frida Kahlo (1907–1954): Diego, der Künstler Mexikos schlechthin, und Frida, deren schillernde Persönlichkeit und vielschichtiges Werk inzwischen Weltruhm erlangt haben.

Aus Anlaß der 200. Wiederkehr des mexikanischen Befreiungskampfs (1810-21) und des 100. Jahrs der Revolution (1910–1920) würdigen die Berliner Festspiele jetzt umfassend Frida Kahlo, dann die Azteken („Teotihuacan“, ab 1. Juli). Die Kahlo-Retrospektive toppt alle Vorläufer im deutschsprachigen Raum.

Dabei ist die mexikanische Malerin im Kulturbetrieb keine Unbekannte. Mehr als dreißig Mal wurde sie in den letzten zehn Jahren international ausgestellt. In Baden-Baden existiert gar eine eigens Kahlo gewidmete Dauerschau ihres (komplett kopierten) Gesamtwerks. So wurde sie zur „Ausstellungskönigin“, einer Popfigur der Malerei und Projektionsfläche ihrer Fans. Eine ganze Industrie hat sich etabliert, eine Merchandising-Maschine mit Kultartikeln aller Art. Kahlo selbst, abgelöst von ihrem Umfeld, stieg derweil zum Hype des internationalen Feminismus und zur surrealistischen Sphinx auf. Fridas Exotik und körperliches Gebrechen verdichteten sich zur magischen Aura und schufen eine Kultfigur: „ein Symbol für verkanntes Talent, eine Frau, die nicht nur von der patriarchalen Autorität, sondern auch vom Schicksal selbst betrogen worden war. Die Geschichte ihres körperlichen Leids (…) verwandelte sie in (…) eine weibliche Christusfigur“ (Rummel).

Frida Kahlo, Tochter eines Deutschen und einer indigenen Mexikanerin, erlitt 1925 einen schweren Unfall, der sich ihrem weiteren Leben schmerzhaft eingrub. In der Rekonvaleszenz begann sie zu malen. 1928 lernte sie im Kreis kommunistischer Intellektueller Diego Rivera kennen, Leitfigur der monumentalen Freskanten. Staatliche Aufträge öffneten den „Muralisten“ die Großbauten und machten ihre Visionen überall präsent. So entstand eine mexikanische Nationalkunst, die den öffentlichen Raum bis heute prägt.

Rivera und Kahlo heiraten 1929. Von 1930 leben sie für vier Jahre in den USA, wo Rivera große Wandaufträge ausführt. Zurück in Mexiko, perfektioniert Frida ihre Kunst und gewinnt internationale Anerkennung. 1938/39 erhält sie große Ausstellungen in New York und Paris. Überschattet werden die Ereignisse von der Ermordung des Freundes Leo Trotzki 1940. Die Riveras gehören seiner internationalen Gruppe an, die Stalin scharf kritisiert. Gleichzeitig führt der Besuch André Bretons zu einer Liaison mit den Surrealisten.

Rivera schätzt und fördert die eigenwillige Kunst seiner Frau. Sie nimmt ihrerseits teil am Leben seines Genies, das beide schließlich in eine aztekische Pyramide führt – Wohnung, Atelier und Antikenmuseum zugleich. Nach Jahren schwerer Krankheit verstirbt Frida 1954. Sie hinterläßt 150 Ölbilder, davon 60 Selbstporträts: Zeichen unendlicher Selbstbefragung, enigmatischer Verrätselung und mythologischer Travestie. Dieses Spiel von Maske, Authentizität und Stilisierung kommt heutigen Postmodernen zupaß, die Zeichen hybrid vermischen, bis das Identische verschwindet. So verschieben sie Kahlos Kunst ganz in den multiplen Raum ästhetischer Individualismen und subjektiver Mystifikation. Das aber zerstört deren Nähe zum monumentalen Realismus Riveras. Dessen heroischer Gestus ist heute für die westliche Wahrnehmung faktisch verloren.

Auch die aktuelle Ausstellung verfällt dieser Amnesie. Zwar versammelt sie den Hauptteil der Meisterwerke, dazu ein Fülle von Zeichnungen. Erstmals sind auch Fridas bizarre Tagebücher zu bewundern. Bei sage und schreibe 47 Leihgebern haben die Kuratoren ihren Schatz zusammengetrommelt. Und doch wird er vom Kahlo-Kult dominiert: Fridomanía. Der aber vernachlässigt die ideellen Komponenten ihres bildnerischen Universums: das fernöstliche Thema, den Sozialismus und die mexikanische Tradition.

Der Konflikt mit den Stalinisten emanzipierte Rivera und Kahlo von der marxistischen Orthodoxie und beflügelte ihr nationalrevolutionäres Konzept. Das Volk – während der Kolonialzeit niedergehalten und seiner ureigenen Kultur beraubt – wird nun zum revolutionären Subjekt. Postkolonial suchen die USA zwar die alten Mächte zu beerben. Ihre verdeckte Politik, wirtschaftliche Agitation und Vernetzung mit den korrupten Eliten vor Ort erzeugen jedoch eine „Klassenlage“, die den Freiheitsimpuls als nationalen Widerstand weckt. Der zerstört Tradition nicht, sucht vielmehr in der Revolution sich seiner Ursprünge neu zu versichern. Die Nationalkultur der Mexicanidad soll die Entfremdeten versöhnen und gemeinschaftliche Identität stiften.

So tauchten beide ein in die präkolumbianische Schicht: Diego auf seinen Fresken und Frida ikonographisch, mit der ästhetischen Folklore, ihren Votivbildern und mexikanischen Trachten. Als Tehuana wurde sie zu einem Gesamtkunstwerk: Neben die gemalten Bilder trat die exotische Figur, die weltweit fasziniert.

Pathetisch hat sie so den Geist der Heimat eingefordert.

 

Die Frida Kahlo–Retrospektive ist bis zum 9. August im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Telefon: 030 / 2 54 86-0. Der Katalog kostet 25 Euro.

Foto: Frida Kahlo, Selbstbildnis mit Dornenhalsband, 1940: Eine weibliche Christusfigur, vom Schicksal selbst betrogen

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