© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Gespalten wie nie
Belgien: Neue Flämische Allianz stärkste Kraft in Flandern / Sozialisten siegen in Wallonien / Schwierige Regierungsbildung erwartet
Mina Buts

Laßt uns der Welt zeigen, daß wir Belgier unsere Probleme lösen können“, erklärte der wallonische Sozialistenchef Elio di Rupo am Wahlsonntag im Stil eines Retters des Vaterlands. Die Zeit drängt, denn zwei Wochen vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft fanden in Belgien vorgezogene Neuwahlen statt. Ob es aber gelingt, eine stabile Regierung zu bilden, ist fraglich.

Nie war das nach der Revolution von 1830 geschaffene Königreich tiefer gespalten: Im niederländischsprachigen Flandern ist die auf radikale Autonomie pochende Neue Flämische Allianz (N-VA) unter ihrem Spitzenkandidaten Bart de Wever mit 27,8 Prozent eindeutig stärkste Partei geworden. Zusammen mit den beiden anderen flämischen-nationalen Parteien – der rechte Vlaams Belang/VB erhielt 12,3 Prozent, die liberale Liste Dedecker/LDD 3,7 Prozent – kommen jene Kräfte, die kurz- oder mittelfristig die Teilung Belgiens und damit die Unabhängigkeit Flanderns wollen, auf 40 der 88 den Flamen zustehenden föderalen Parlamentssitze.

Ausgerechnet die Sozialisten aber, die von vielen für den Stillstand im Land verantwortlich gemacht werden, sind die eigentlichen Wahlsieger geworden. Im bevölkerungsärmeren französischsprachigen Wallonien erhielten sie 37,6 Prozent und damit 26 der 62 wallonischen Sitze. Und da sie mit den flämischen Sozialisten (SPA/14,6 Prozent) auch eine kompatible Schwesterpartei haben, stellen sie nun mit zusammen 39 von insgesamt 150 föderalen Abgeordneten die stärkste Parlamentsfraktion. Und di Rupo, seit 2005 Ministerpräsident von Wallonien, könnte sogar der erste wallonische Regierungschef Belgiens seit Jahrzehnten werden.

De Wever und di Rupo, das sei wie Feuer und Wasser, schrieb die Gazet van Antwerpen. Der eine stehe für rechts, der andere für links, der eine für eine noch weitergehende Regionalisierung inklusive der Sozialpolitik, der andere für ein starkes Belgien und die Beibehaltung der Föderalisierung. Doch seien beide so stark, daß sie sich – ohne sich selbst zu kompromittieren – die Hand reichen könnten. Wie das allerdings gehen soll, bleibt vorerst offen. Di Rupo will „dem flämischen Wähler genau zuhören“, de Wever will „Brücken bauen“. Mehr Zugeständnisse an die jeweils andere Seite waren noch nicht zu hören.

Egal, wer letztlich die Regierung führt (ohne die dezimierten Christdemokraten und Liberalen ist das unmöglich) – auch die Probleme jenseits der nationalen Fragen sind gewaltig. Bereits vorige Woche hatten ausländische Wirtschaftszeitungen vor einer „Griechenlandisierung“ Belgiens gewarnt. Denn die staatliche Schuldenquote beträgt 97 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sie ist damit – nach Italien und Griechenland – die dritthöchste der Euro-Zone.

Allerdings hat Belgien seit Einführung des Euro die damalige Schuldenquote von 134 Prozent kontinuierlich gesenkt. Und im Gegensatz zum südlichen „Club Med“, der notorisch über seine Verhältnisse lebt, weist die belgische Leistungsbilanz Überschüsse auf. Für belgische Staatsanleihen ist dennoch ein Risikozuschlag zu zahlen, die Anleger verlangen für Staatspapiere eine Rendite von 3,5 Prozent – einen Prozentpunkt mehr als für deutsche Papiere. Dennoch äußerte de Wever den Verdacht, entsprechende Zeitungsartikel seien bewußt plaziert worden, um indirekt eine Wahlempfehlung gegen ihn als „Spalter“ des Landes auszusprechen. Er könne aber nicht für Dinge verantwortlich gemacht werden, die er nicht zu verantworten habe, er sei ja noch nicht einmal gewählt, wehrte er sich in einem Interview vor der Wahl.

Der wallonische Geschäftsmann Albert Frère, Ex-Anteilseigner bei Bertelsmann und einziger Milliardär des Landes, empörte sich hingegen im französichsprachigen Blatt Le Soir, daß es nicht sein könne, angesichts der Wirtschaftskrise den Sprachenstreit zur Priorität zu machen. Der 84jährige Baron verkennt dabei bewußt, daß dieser nur ein Synonym für die tiefe Zerrissenheit Belgiens ist. Das wirtschaftlich starke Flandern – es erbringt etwa zwei Drittel der Wirtschaftsleistung – subventioniert das einst von Kohle und Schwerindustrie dominierte Wallonien jährlich mit etwa zehn Milliarden Euro. Der südliche Landesteil „dankt“ dies mit einer rigorosen Blockadepolitik. Di Rupo hat jetzt bis zum September eine Lösung für den umstrittenen zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde angekündigt. Auch das wird er nur durchsetzen können, wenn es ihm gelingt, eine handlungsfähige Regierung auf die Beine zu stellen.

Foto: Wahlsieger De Wever (N-VA) und Di Rupo (PS): Kontrahenten

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