© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Krise in Berlin
Paralyse der Politik
Dieter Stein

Altgediente Beobachter des politischen Betriebs raunen es sich in diesen Tagen zu: Noch nie befand sich eine Bundesregierung in einem derart desolaten Zustand wie die gegenwärtige. Allenfalls erinnert die Lage an die Situation 1982 zur Endzeit der sozial-liberalen Koalition, als sich die FDP anschickte, die Fronten zur CDU zu wechseln. Es ist aber weniger der Streit um Grundsätzliches festzustellen, vielmehr eine vorherrschende Atmosphäre der Lustlosigkeit, Auflösung, Zerrüttung.

In Firmen, denen es an guter Kultur, Visionen und Erfolg mangelt, trifft man vermehrt Angestellte, die „innerlich gekündigt“ haben. Im politischen Berlin wird dies zur Regel. Nach den offen vollzogenen Kündigungen von Koch und Köhler wird laut darüber spekuliert, wer wohl als nächstes frustriert hinwirft: in Hamburg Ole von Beust, in Berlin Karl Theodor von Guttenberg ...

Nichts ist erotischer als Erfolg, so meint ein geflügeltes Wort. Die Dienstwagen, Empfänge, Blitzlichter der Fotografen – sie pumpen das Adrenalin in die Adern der Politiker. Die meisten Politiker in Deutschlands haben zudem nie etwas anderes als Politik gemacht. Politik ist ihr Leben. Politik ist ihr persönlicher Erfolg.

Kritik muß man als Politiker wegstecken können. Rückhalt findet man im eigenen Milieu. Nun aber dürfte es so sein, daß selbst Bundesministern bei ihren Heimatbesuchen nicht einmal mehr im engsten sozialen Umfeld Respekt begegnet. Die selbstreferentiell um sich selber kreisende Politikerkaste trifft inzwischen überall auf kalte Verachtung für ihr Tun. So müssen sich BP-Manager fühlen, die derzeit den Golf von Mexiko mit Öl verpesten.

Eine tiefdepressive Stimmung hat den Politikbetrieb erfaßt. Ein „bürgerliches Milieu“, das ein „schwarz-gelbes Projekt“ tragen und ihm intellektuell die Richtung weisen könnte – es  existiert nicht mehr. Der Überdruß an der Merkel-Westerwelle-Truppe treibt neben der FAZ selbst in der sonst nibelungentreu zur Kanzlerin stehenden Springer-Presse immer neue Blüten. Joachim Gauck erhält nicht nur deshalb unisono Kränze gewunden, weil er tatsächlich der bessere Kandidat für das Bundespräsidentenamt ist: Es ist vielmehr eine von Politikverdrossenheit befeuerte, kaum unterdrückte Schadenfreude, mit der „bürgerliche“ Feuilletons im Falle von Gaucks Wahl die Regierung Merkel ihrem sicheren Ende entgegentaumeln zu sehen hoffen.

Es ist ein Haß auf das Politische, der sich hier Bahn bricht; eine Ahnung davon, selbst mit dem Latein am Ende zu sein. Denn es existiert sowenig wie noch nie bei diesem juste milieu eine Vorstellung, was anstelle der Durchwurstelei, der alternativlosen Milliarden-Notverordnungen à la Merkel zu tun sei. Es gibt nur die keimende Erkenntnis vom eigenen jahrzehntelangen Versagen, die larmoyante Klage befeuernd, von Nieten regiert zu werden, die sie doch selbst aus ihrer Mitte hervorgebracht haben – einer Mitte, die den Ernstfall immer verhindern wollte, indem sie seine Existenz leugnet. Nun ist er da, und der politische Betrieb ist wie gelähmt.

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