© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Stalins Schreckensregime: Eine Serie von Andrzej Madela / Teil 5 und Schluß
Zwischen zwanzig und vierzig Millionen Opfer
Stalins Massenmorde während der „Säuberungen“ hatten massive gesellschaftliche Auswirkungen / Eine Aufarbeitung dieser Schreckenszeit ist bis heute lückenhaft

Ein spezieller Bereich der Großen Säuberung ist deren Auswirkung auf das Offizierskorps der Roten Armee. Zwei Aspekte fallen dabei auf: zum einen ein zeitlicher Gleichschritt der Vernichtung der Militärelite mit der der  technisch-industriellen Oligarchie. Das legt den Schluß nahe, daß Stalin den militärisch-industriellen Komplex möglicherweise als eine Einheit sah und die Armeeführung als Teil der widerständigen Oligarchie betrachtete. Zum anderen sticht der exorbitant hohe Blutzoll hervor, der das Offizierskorps über jede andere mit Repressalien belegte Berufsgruppe hinaushebt. Hingerichtet werden drei von fünf Marschällen (der große Militärreformer Michail Tuchatschewski, außerdem Alexander Jegorow und Wassili Blücher); drei von acht Armeegenerälen (Iona Jakir, Jeronim Uborewitsch, Iwan Below); zehn von zehn Waffengenerälen; alle 17 Armee-Politkommissare; 12 von 14 Armeekommandeuren; 57 von 67 Korpskommandeuren; 125 von 199 Divisionskommandeuren; 200 von 397 Brigadekommandeuren; 401 von 456 Regimentskommandeuren sowie etwa 40.000 Offiziere niedrigerer Ränge.

Die Große Säuberung unter Stalin forderte viele Millionen Opfer

Allgemein liegen die Verluste je nach Waffengattung und Rang zwischen 60 und 100 Prozent des Personalbestandes. Sie führen zu einem schleichenden Qualitätsverlust: Trotz erdrückender Überlegenheit an Mannstärke und Ausstattung ist die Rote Armee 1939/1940 nicht in der Lage, den Winterkrieg gegen die völlig unterlegenen Streitkräfte Finnlands siegreich zu beenden. Noch im Juni 1941 haben gerade  einmal sieben Prozent der höheren Kommandeure eine Generalstabsakademie hinter sich und lediglich 37 Prozent den Abschluß einer höheren Militärschule vorzuweisen. Die Todesernte unter den Offizieren verwandelt die Armee in eine uniformierte Partei, deren neue Nomenklatur ihren Aufstieg nicht ihren Fähigkeiten, sondern allein der Bindung an Stalin verdankt.  

Als die Terrorwelle 1938/1939 angesichts der sich in Europa abzeichnenden Zuspitzung auf einen Krieg abebbt, ist ihre exakte Bilanz zwar nur wenigen bekannt, ihre verheerenden Folgen aber allseits spürbar. Dazu gehören auf jeden Fall die etwa 1,5 bis zwei Millionen Erschossenen infolge von Urteilen sogenannter NKWD-Troikas. In den Konzentrationslagern sterben weitere zwei Millionen Menschen an Erschöpfung, Hunger oder Krankheiten. Allein 1937 bis 1938 geraten etwa sieben bis acht Millionen Sowjetbürger in Haft. Dabei steigt der „Lagerbestand“ des Gulag von fünf Millionen 1935 auf acht Millionen drei Jahre später an. Die Große Säuberung zählt folglich etwa zwanzig Millionen Opfer. Nimmt man hingegen die Jahre 1921 bis 1934 hinzu, ergibt sich eine Zahl von vierzig Millionen Opfern der Stalin-Ära von 1921 bis 1939. Zusätzlich zu den Opfern des ukrainischen „Holodomor“ zeitigte der Massenmord eine derart demographisch relevante Größe, daß Stalin höchstselbst die Ergebnisse der sowjetischen Volkszählung von 1937 zum Staatsgeheimnis erklärte, falsche Zahlen veröffentlichen ließ und die leitenden Mitarbeiter dieser Volkszählung als Saboteure und Volksfeinde ins Gulag schickte.

Weitaus wichtiger freilich erscheint am Vorabend des Kriegs die innere Verfassung der Sowjetunion. Aus einem international schwachen Staat der mächtigen Oligarchen um 1930 wird zehn Jahre später ein mächtiger Staat des unangefochtenen Diktators Stalin. Dieser Staat tritt nun in Konkurrenz zu den internationalen Schwachpunkten Frankreich und Großbritannien. In seiner Radikalität, in dem totalitären Zugriff auf tatsächliche und imaginäre Feinde erinnert er an seinen frühkommunistischen Vorläufer. Doch dieser Vergleich trügt. Der Vorläufer  wußte noch um die eigenen beschränkten politischen Möglichkeiten und die Grenzen eigener Leistungsfähigkeit. Der Nachfolger erhebt hingegen den Ausnahmezustand zur Norm, seine technischen Kapazitäten sind erheblich gewachsen und Selbstzweifel ihm unbekannt.

Der Wegfall jeglicher politischer Hemmnisse tut ein übriges. Wo noch Ende der zwanziger Jahre eine kollektive Führung dem Abgleiten in permanente Radikalität im Wege stand, stößt zehn Jahre später auf keinerlei Hindernis mehr. Seine lange Zeit an inneren Konflikten geschliffene Form erprobt sich nun in äußeren Auseinandersetzungen. Derselbe aggressiv gewordene Staat, der zunächst 1934 bis 1938 zu seiner inneren Form gefunden hat, marschiert nun am 17. September 1939 als Hitlers Verbündeter in Ostpolen ein und  erzwingt anschließend „Grenzkorrekturen“ mit Finnland und Rumänien. Deportationen und Vertreibungen aus Ostpolen, Litauen, Lettland und Estland sind die gleichen, die er seit 1932/33 in Südrußland und der Ukraine vorexerziert hat. Hinrichtungen, die er im Frühjahr 1940 an polnischen Offizieren und Polizisten vornehmen läßt, bilden lediglich  eine verlängerte Form jener Aggressivität, die er nur wenige Jahre zuvor an eigenen Staatsbürgern vollzogen hat.

Innere Radikalität wird nach 1938 auch außenpolitisches Prinzip

Industrieller Zuschnitt der Feindbestimmung und eine deutliche Radikalisierung durch soziale Aufwärtsbewegung kennzeichnen die Große Säuberung. Sie beginnt mit der gewaltsamen Lösung eines parteiinternen Konflikts, in dessen Verlauf die ehemalige Leninsche Elite nahezu vollständig ausgerottet wird. Der siegreich beendete Konflikt schafft die alte oligarchische Ordnung endgültig ab. An deren Stelle tritt ein streng persönliches und stark radikalisiertes Regiment, das nun die einmalige Chance wahrnimmt, alles in die neu geschaffene Ordnung nicht Integrierbare endgültig aufzuheben. Dazu gehören die Überreste der alten Garde und ihre staatsindustriellen Ableger, die eigenständigen Bauern und die orthodoxe Kirche, das Offizierskorps und die Diplomatie. Es entsteht ein neues Muster politischer Staatskonformität, die peinlich jede biographische Berührung mit den Tabuzonen meidet. Hinter der dekretierten Freiheit der  sowjetischen Gesellschaft lauert jahrzehntelang die Angst und höhlt so den propagierten Wert der Gemeinschaft aus.

Verglichen mit dem Dritten Reich erscheint die Stalinsche Sowjetunion in ihrer Innengeschichte 1934 bis 1939 um einiges radikaler, gar bedingungsloser. Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Pendant setzt sie nicht auf soziale Integration gegnerischer Massen, sondern auf ihre großangelegte, möglichst restlose Liquidierung. Die erhoffte Einheit durch Vernichtung bleibt ihr Programm auch dann, als sie die Große Säuberung hinter sich läßt: Sie überträgt nun die im Inneren kumulierte Radikalität unmittelbar auf ihr außenpolitisches Gebaren.

Unterschiedlich ist auch deren jeweilige innere Verfassung: Während im Dritten Reich bis weit in die vierziger Jahre hinein eine Vielzahl verschieden gewichteter Machtzentren besteht, kennt die Sowjetunion der späten dreißiger Jahre ein solches Phänomen nicht mehr. Das verleiht ihr auf den ersten Blick größere Geschlossenheit und Wirksamkeit, die sich jedoch bei näherem Hinsehen als trügerisch erweisen. Denn gerade die Vernichtung der kommunistischen Mittelklasse mit ihren Fähigkeiten zur Übersetzung großer Pläne in die Alltagspraxis sorgt für die Ineffektivität des Systems – und versetzt es in jenen wackligen Zustand, der am 22. Juni 1941 seinen vorläufigen Abschluß findet.

Ende der Serie

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