© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

In die Propaganda-Falle getappt
Nahost-Konflikt I: Der blutige Stopp des „Free Gaza“-Schiffskonvois markiert einen geopolitischen Wendepunkt / Israel verliert Verbündete
Ivan Denes

Die neun toten Türken an Bord des unter komorischer Flagge fahrenden Schiffs „Mavi Marmara“ haben schlagartig eine dramatische Verschiebung der geopolitischen Lage im Nahen und Mittleren Osten beleuchtet. Wie konnte es soweit kommen?

Die israelische Regierung hatte keine andere Wahl, als den Schiffskonvoi der sogenannten „Free Gaza“-Bewegung aufzuhalten. Sonst wäre die völkerrechtlich völlig gedeckte Blockade des Gaza-Streifens zusammengebrochen, und der Iran hätte einen Freihafen am Mittelmeer bekommen. Die eingesetzte israelische Sondereinheit war militärisch völlig falsch vorbereitet, sie hat gravierende Fehler begangen – was dem Ansehen Israels enorm geschadet und den antiisraelischen Tsunami erst ermöglicht hat. Der Plan der generalstabsmäßig organisierten Allianz von westlichen Linken und Muslimen ist damit voll aufgegangen.

Unter den „Free Gaza“-Aktivisten gab es eine Gruppe, die nur auf Konfrontation aus war, darunter etwa 50 türkische Söldner. Unter denen, die sich beim Angriff zum Lynchmob formierten, waren mehrere, die in der Muslimbruderschaft oder deren Ablegern aktiv sind. Mohammed Al-Baltaji ist Vizechef der Muslimbruder-Fraktion im ägyptischen Parlament. Drei Jemeniten gehören zur Islah-Partei, einem Ableger der Muslimbrüder. Auch die jordanischen Muslimbrüder waren präsent, darunter Salam el-Faraht, einer ihrer geistigen Führer.

Der israelische Geheimdienst hat offenbar peinlich versagt, weil er der Regierung und Armeeführung nicht klargemacht hat, wer der eigentliche Organisator der Aktion war, nämlich die türkische Organisation İHH İnsani Yardım Vakfı. Die „Gesellschaft für Menschenrechte, Freiheiten und humanitäre Hilfe“ ist eine radikal-islamistische Vereinigung, die unter dem Deckmantel einer Wohlfahrtsorganisation agiert.

Die jahrzehntelang für beide Seiten vorteilhaften türkisch-israelischen Beziehungen haben sich mit dem Gewährenlassen der İHH endgültig zum Schlechteren gewandelt. Das zeichnete sich ab – spätestens seit dem ersten Empfang der Hamas-Führung 2006 in Ankara.

Faktische Aufkündigung des Bündnisses Türkei–Israel

Die 2003 ins Amt gekommene AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan hat anfangs das Militärbündnis mit Israel noch toleriert. Die türkischen Streitkräfte wurden weiter von den Israelis modernisiert und hochgerüstet. Die israelische Luftwaffe konnte im türkischen Luftraum üben. Israelis haben 1999 bei der Verhaftung des Kurdenführers Abdullah Öcalan mitgewirkt. Bedeutende Wirtschaftsverträge, etwa der Bau einer Pipeline entlang der Mittelmeerküste für Wasserlieferungen nach Israel, wurden unterschrieben. Für die Türkei war die Allianz auch von großer politischer Bedeutung, etwa hinsichtlich der Unterstützung der jüdischen Lobby für eine EU-Mitgliedschaft und für das Abblocken proarmenischer Resolutionen im US-Kongreß in Zusammenhang mit dem Völkermord von 1915/16.

Das alles hat Erdoğan jetzt aufgekündigt. Die israelische Luftwaffe übt nun im griechischen Luftraum. Anfang dieses Jahres startete ein Konvoi von 200 türkischen Lkw über Syrien, Jordanien, das Rote Meer und Ägypten in Richtung Gaza – die Aktion scheiterte allein an der ägyptischen Weigerung, ihn nach Gaza weiterfahren zu lassen. Die offen antiisraelische Wende begann, als die Führung in Ankara erkannte, daß ihre Aussichten auf einen EU-Beitritt illusorisch sind. Das führte 2009 zum Amtsantritt des neuen Außenministers Ahmet Davutoğlu. Der 51jährige Geostratege erkannte, daß in der muslimischen Welt drei nichtarabische Länder die Führungsrolle übernommen haben: Pakistan mit seinen Atombomben, der Iran und die Türkei (JF 21/09).

Die islamistische AKP-Führungsriege träumt von der Wiederherstellung des 1924 von der türkischen Regierung aufgelösten Kalifats. Der beste Weg hin zu dieser islamischen Regierungsform ist die Konfrontation mit Israel, denn in Moslem-Staaten führt die Hetze gegen den Judenstaat in der Regel zu steigender Zustimmung in der Bevölkerung. In einer seiner jüngsten Reden drohte Erdoğan, er werde zukünftige Hilfskonvois (trotz der Aufbringung des irischen Schiffs „Rachel Corrie“ am Wochenende sind weitere in Vorbereitung) von der türkischen Kriegsmarine nach Gaza eskortieren lassen. Darüber habe er die US-Regierung schon informiert. Die Konsequenzen sind kaum vorstellbar.

Auch die amerikanisch-israelischen Beziehungen sind nach dem gelungenen Propaganda-Coup belastet. Die US-Regierung scheint über Nacht vergessen zu haben, daß sie die in Gaza regierende Hamas auf der Liste der Terrororganisationen führt – und Gaza keineswegs von allen Hilfslieferungen abgeschnitten ist. Von Israel aus werden lebenswichtige Güter weiter angeliefert – allerdings streng kontrolliert und limitiert. Die US-Regierung beschreibt die in Gaza herrschenden Zustände dennoch als „unsustainable“ (unhaltbar). Washington befürwortet weiter eine internationale Untersuchung der Ereignisse, Premier Benjamin Netanjahu will nur eine eigene Regierungskommission einsetzen, mit zwei Beobachtern aus dem Ausland, davon einer aus den USA.

US-Präsident Barack Obama scheint zudem die tatsächlichen Entwicklungen in der Region zu verkennen. Er sieht nicht den Niedergang der Arabischen Liga, den Prestigeverlust Ägyptens und Saudi-Arabiens sowie das Gewicht, das eine zukünftige iranische Atombombe haben wird. Dafür hat er einen Tag vor dem Entern der „Mavi Marmara“ die bisherige US-Politik aufgegeben, die israelische Nuklearpolitik zu unterstützen, und einer Resolution zugestimmt, die Israel praktisch auffordert, seine letzte Verteidigungslinie aufzugeben, nämlich seine Atomwaffen.

Am Montag hat nun der iranische Rote Halbmond angekündigt, zwei Schiffe mit „Freiwilligen“ und Hilfsgütern nach Gaza schicken. Die paramilitärischen iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) sollen die Flottille eskortieren – wie wird Israel darauf reagieren?

Foto: Trauerfeier für „Mavi Marmara“-Opfer in Istanbul: AKP-Regierung hofft auf wachsende Zustimmung

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