© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Auf Anhieb präsidiabel
Joachim Gauck: Der Kandidat von SPD und Grünen stößt auch bei Bürgerlichen auf große Sympathien
Thorsten Hinz

Diesmal durfte der SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel sich allgemeiner Zustimmung sicher sein. Bei der Vorstellung des Präsidentschaftskandidaten von SPD und Grünen gelang ihm die bissige Formulierung, Joachim Gauck lege ein Leben in die Waagschale, der CDU-Kandidat Christian Wulff bloß eine politische Laufbahn. Die vergiftete Spitze war um so bemerkenswerter, als sie die meisten aktiven Politiker inklusive Gabriel trifft. Daß er sie trotzdem abschoß, zeugt vom hohem Einsatz, mit dem bei der Neuwahl des Bundespräsidenten gespielt wird.

Der Enthusiasmus, den Gaucks Kandidatur in der Öffentlichkeit und quer durch alle politischen Lager findet, ist ungewöhnlich und fast schon unheimlich. Selbst Unionspolitiker bekunden, wie großartig sie den Kandidaten der Gegenseite finden, nur habe man mit Wulff schon einen eigenen. Das Wort „leider“ bleibt unausgesprochen, doch bei den meisten darf man es sich dazudenken. Hier drückt sich viel mehr aus als nur der Überdruß an Merkels taktischen Spielchen. Das große Unbehagen an der politischen Klasse reicht inzwischen bis tief in die etablierten Parteien hinein. Sogar die Politiker scheinen ihre Hoffnungen nur noch auf eine Kraft außerhalb der Politik setzen. Ob es deshalb bei der Wahl in der Bundesversammlung am 30. Juni tatsächlich zu einem Überraschungssieg von Joachim Gauck kommt, ist eine ganz andere Frage.

Was spricht für ihn? Seine Herkunft aus der DDR ist kein Wert an sich, wie die amtierende Kanzlerin demonstriert, aber tatsächlich erscheint der ehemalige Pfarrer und Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, der 1940 in Rostock geboren wurde, auf Anhieb präsidiabel. Er ist ein guter Redner, strahlt eine natürliche Würde aus und benötigt weder Amt noch Entourage, um in einer Gesellschaft spontan den Mittelpunkt zu bilden. Sein Vater, ein Rostocker Marineoffizier, wurde von den Russen nach Sibirien deportiert und kehrte erst 1955 zurück. Über die Abgründe des real existierenden Sozialismus war Gauck damit frühzeitig belehrt. Er gehörte in der DDR nicht zur politischen Opposition, aber er füllte souverän die Frei- und Zwischenräume aus, die das SED-Regime unfreiwillig duldete. 1989 rückte er schnell in die Spitze der DDR-Bürgerrechtsbewegung vor. Er gehört zu den wenigen, die sich über die Wendezeit hinaus ihr intellektuelles und politisches Charisma bewahrt und es sogar noch geschärft haben. Seine Unterstützung für das Zentrum gegen Vertreibungen und die Mitarbeit an der deutschen Fassung von Stephan Curtoise’ „Schwarzbuchs des Kommunismus“ macht deutlich, daß er kein Anhänger rot-grüner Gesellschaftsutopien ist.

Der Vorwurf, der ihm aus der Linkspartei entgegenschallt, er sei bloß ein Mann der Vergangenheit, sagt mehr über die Urheber als über den Adressaten aus, doch ganz grundlos ist er nicht. Von einem Mann, der die Auswirkungen der Diktatur und die Begeisterung für die Freiheit zu seinem Lebensthema gemacht hat, hätte man sich häufigere Interventionen zu Problemen der Gegenwart gewünscht. Muß einem Stasi-Experten nicht aufstoßen, wenn der Verfassungsschutz die Innenpolitik und die Meinungsbildung durch manipulative Expertisen und Aktionen zu beeinflussen versucht und wenn die Meinungs- und Diskussionsfreiheit durch Strafgesetze beschränkt wird? Bedrückt es ihn nicht, wenn die IM-Mentalität sich erneut ausbreitet und sogar – als vermeintliche Zivilcourage – in der Bundesrepublik eine öffentliche Anerkennung findet, die sie in der DDR niemals hatte? Die Stasi-Problematik dürfte Gauck, sollte er Präsident werden, nicht länger nur als eine moralische, sondern auch als politische und historische Frage behandeln und mit dem kalten Bürgerkrieg zwischen beiden deutschen Staaten in Beziehung setzen, in dem sich wiederum der ideologische Weltbürgerkrieg spiegelte. Die Erweiterung der geschichtlichen Perspektiven wäre eine Aufgabe, der ein undespräsident Joachim Gauck viel eher gewachsen wäre als sein Kontrahent.

SPD und Grüne scheinen selbst überrascht

Doch nicht an inhaltlichen Fragen wird sich die Wahl entscheiden. Schon Gaucks Nominierung beruhte auf parteitaktischen Überlegungen. Gedacht war er als Zählkandidat, mit dem die Parteiführungen von SPD und Grünen ihren Anhängern Handlungsfähigkeit signalisieren und bei Union und FDP ein wenig Verwirrung stiften wollten. Ginge es ihnen um einen Mann wie Gauck, dann hätten sie ihn schon früher haben können. 1994 gab es aus der Union klare Signale an die Sozialdemokraten, daß man den SPD-Politiker und Theologieprofessor Richard Schröder mittragen würde, während für die Grünen der  Bürgerrechtler und Biochemiker Jens Reich ins Rennen ging. Beide waren vorzügliche Repräsentanten, doch die SPD bestand auf dem aus der Zeit gefallenen Johannes Rau, den sie 1999 auch tatsächlich durchsetzte. Jetzt scheinen die SPD und Grüne selber überrascht von Gaucks Resonanz.

FDP-Mitglieder könnten versucht sein, sich mit seiner Wahl für die Demütigungen zu rächen, die ihrer Partei durch Angela Merkel zugefügt worden sind. Doch wenn Christian Wulff durchfällt, würden Koalitions- und Kanzlerkrisen folgen. Die FDP müßte wohl aus der Regierung ausscheiden, es würde zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, bei denen die Liberalen pulverisiert würden. Diese Aussicht dürfte die Wahlmänner und -frauen der FDP dazu bringen, am Ende doch für Wulff zu stimmen. Gleiches gilt für Unionsabgeordnete, die Gauck zuneigen.

Überhaupt hat Gauck nur dann eine theoretische Chance, wenn die Linkspartei in der Bundesversammlung geschlossen für ihn stimmt. Die Linke wird zwei Überlegungen gegeneinander abwägen: Zur Zeit befindet sie sich – auch gegenüber der SPD – klar in der politischen Offensive. Wenn sie Gaucks Präsidentschaft ermöglicht, verschafft sie Siegmar Gabriel einen Triumph, der ihn auf Anhieb zum unumstrittenen Anführer des Oppositionslagers machte. Andererseits würde eine Stimmabgabe für den SED-Gegner Joachim Gauck als Zeichen ihrer historischen Läuterung gewertet werden, womit einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene nichts mehr im Wege stünde. Subjektiv mag Gauck sich noch so überparteilich fühlen – der Wahlausgang bleibt der Parteitaktik unterworfen.

Foto: Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck: Früh die Abgründe des real existierenden Sozialismus kennengelernt

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