© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Drittklassig
Bundespräsident: Die Politik in Deutschland befindet sich in einer tiefen Legitimationskrise
Thorsten Hinz

Es war ein Abgang in Unehren, den sich Horst Köhler mit seinem überhasteten und schwach begründeten Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten bereitet hat. Der Vorwurf, er habe einer verfassungswidrigen Kanonenbootpolitik das Wort geredet, war so dumm, daß er ihn leicht hätte widerlegen können: durch eine Präzisierung seiner Interview-Äußerung oder durch Ignorieren. Er hätte deutlich machen können, daß Pressekritik oft ohne Sachkunde und politische Absicht geschieht und ihr Zweck sich mit der erzielten Aufmerksamkeit bereits erfüllt hat. Hinter dem Drang mancher Journalisten, immer neue Skandale zu produzieren und so selber ein paar Minuten Medienruhm zu erhaschen, steht die Angst vor Hartz IV!

Falls Köhler das Gefühl der Isolation und der Gefangenschaft in einem Intrigengespinst den Verbleib im Schloß Bellevue unmöglich gemacht hat, dann hätte er dieses Gefühl begründen und zum Gegenstand seiner Rücktrittserklärung machen müssen. Seine Feststellung, es mangele an Respekt gegenüber dem Präsidentenamt, besitzt ja Substanz, aber sie ist anders begründet, als er das in seiner Rücktrittserklärung verkündete.

Als ausgewiesener Experte in Wirtschafts- und Währungsfragen weiß Köhler genau, daß die Euro-Rettungspakete Deutschland in den Abgrund zu reißen drohen. Im Gesetzgebungsverfahren wurde ihm Unfaßbares zugemutet. Aus Schanghai kommend, hatte er am Freitag, den 21. Mai, einen Zwischenstopp bei den deutschen Truppen in Afghanistan eingelegt. Am späten Abend traf er in Berlin ein, wo Bundestag und Bundesrat am selben Tag in einer Hauruck-Aktion das 750-Milliarden-Gesetz verabschiedet hatten. Noch in der Nacht müssen die Unterzeichnung und Ausfertigung erfolgt sein, denn am nächsten Tag wurden sie bereits vermeldet. Das materielle Prüfungsrecht – das in Wahrheit die Pflicht des Bundespräsidenten bezeichnet, das verfassungsgemäße Zustandekommen der Gesetze zu überprüfen – konnte Köhler unter diesen Umständen überhaupt nicht wahrnehmen.

Als Politiker, der seinem Amtseid gehorcht, hätte er sich dem Zeitdruck verweigern müssen. Politische Pressionen hätte er dann immer noch mit dem Rücktritt beantworten können, verbunden mit einer entsprechenden Erklärung. Darin hätte er, der für Deutschland die Euro-Modalitäten ausgehandelt hatte, seinen eigenen Maastricht-Irrtum und seine politische Naivität einräumen können: Die Annahme, die Euro-Partner seien vom gleichen Gemeinschaftsgeist wie er selbst erfüllt, habe ihn auf den Buchstaben des Vertrags nicht so genau achten lassen. Das hätte echtes politisches Handeln und für Köhler den Eintrag in die Geschichtsbücher bedeutet. Doch erwies er sich als Beamter, der in der fatalen Handlungslogik des Politikbetriebs gefangen blieb, an der er doch litt. So assoziiert sein Rücktritt das Bild von den Ratten, die sich vom sinkenden Schiff davonstehlen.

Der Vorgang wirft die Frage auf, wie man sich den politischen Vorgängen und Personalien in Berlin überhaupt noch nähern soll. Natürlich kann man sich weiter in Detailkritik üben, Politikerpsychogramme erstellen, sich über Angela Merkels Machttaktik erregen und an ihrem Beispiel den Zusammenhang zwischen ästhetischen und politischen Defiziten in der Berliner Republik demonstrieren. Man kann dem Präsidentschaftskandidaten Christian Wulff das Charisma einer Parkuhr attestieren und mit seinem profilierten Gegenkandidaten Joachim Gauck Hoffnungen und Erwartungen verknüpfen, von denen man weiß, daß sie meistenteils unerfüllt bleiben werden. Man kann die Einsparungen, welche die Bundesregierung gerade beschlossen hat, zufällig, zusammenhang- und konzeptionslos nennen und liegt damit sogar richtig. Man verbleibt dann in der Logik des Betriebs, wird von ihm akzeptiert und vielleicht sogar zugehörig, doch in die Tiefenstruktur der Probleme dringt man nicht vor.

Zur selben Zeit, da in Berlin ein Sparpaket verkündet wurde, besiegelte Finanzminister Schäuble in Luxemburg eine Zweckgesellschaft, durch die Deutschland fremde Haushaltsrisiken übernimmt. Kein Teilnehmer der Sparklausur im Berliner Kanzleramt hat darauf gedrungen, die Belastung der Steuer- und Sozialkassen durch ausländische Transferempfänger zurückzufahren. Die deutschen Politiker gehorchen einem verdinglichten Denken, das politische Weichenstellungen, die so falsch wie willkürlich sind, in den Rang eines göttlichen beziehungsweise Naturgesetzes erhebt. Sie legitimieren sich nicht mehr vom deutschen Demos her, sondern von den verkehrten Gesetzen.

Dann aber wird eine Fundamentalkritik herausgefordert, die die Ochlokratie, die Herrschaft der Drittklassigen, anprangert. Die  politische Weisheit der Antike meinte damit jene Phase der Demokratie, in der die Führungskräfte durch Negativauslese bestimmt werden. Diese Negativauslese, die auch für Intellektuelle, Journalisten usw. gilt, steht mit der Entmündigung Deutschlands durch das Brüsseler Europa in engem Zusammenhang.

Wir stoßen auf einen Zusammenhang, den Oswald Spengler 1924 so beschrieb: „Aber ich sehe in den Wortführern dieses Systems einen letzten Wunsch heimlich heraufdämmern, schurkischer als alle, die vorausgegangen sind: den Wunsch, sich den Folgen einer Umstimmung des Volkes dadurch zu entziehen, daß man bei der Verwandlung Deutschlands in eine Reparationskolonie, in ein europäisches Indien – ein Plan, der überhaupt erst durch die Erfüllungspolitiker bis zu seiner heutigen Selbstverständlichkeit getrieben werden konnte – sich als Vollzugsorgan von den Gegnern legitimieren und seine Stellung damit von jeder inneren Krise unabhängig machen läßt.“

Ersetzt man den „Gegner“ durch „Brüssel“ oder durch die „westliche Werte-“ bzw. „internationale Staatengemeinschaft“, erhält man eine ziemlich genaue Beschreibung der Gegenwart. In diesem Sinne haben wir längst eine politische Einheitspartei, deren braver Notar bis zum bitteren Ende auch Horst Köhler blieb.

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