© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/10 04. Juni 2010

Säbelrasseln im Land der Morgenstille
Korea: Nach der Versenkung eines südkoreanischen Kriegsschiffs haben sich die Spannungen verschärft
Albrecht Rothacher

Am 26. März starben 46 südkoreanische Marinesoldaten, als ihre Korvette PCC-772 nahe der umstrittenen innerkoreanischen Seegrenze im Gelben Meer versank. Kurz zuvor von einem Torpedo getroffen, explodierte die Cheonan nahe der südkoreanischen Baengnyeong-Insel. In den flachen Gewässern konnte die Marine das Wrack und die Torpedoteile bergen. Einer internationalen Kommission gelang es, an Bauart und Markierungen unzweifelhaft ein nordkoreanisches Fabrikat zu identifizieren, das von einem Klein-U-Boot abgefeuert worden war.

Die südkoreanische Bevölkerung war über den Kriegsakt nur scheibchenweise informiert worden, um die schnell erregbare öffentliche Meinung im Land unter Kontrolle zu behalten. Daher herrscht in Seoul bislang gespannte Normalität. US-Außenministerin Hillary Clinton kam zu Krisengesprächen mit Präsident Lee Myung-bak vorbei, gefolgt von den Premiers Chinas und Japans, Wen Jiabao und Yukio Hatoyama. Südkorea will den Fall vor den UN-Sicherheitsrat bringen. Doch die Optionen für neue Sanktionen sind begrenzt, da ein Großteil der Wirtschafts- und Nahrungsmittelhilfen nach den nordkoreanischen Atombomben- und Raketentests bereits eingefroren wurden. China hat bislang verläßlich gegen Verurteilungen seines Verbündeten sein Veto eingelegt und nur Beileid für die Opfer des tragischen Vorfalls bekundet, dessen Ursachen sehr kompliziert seien.

Als der Geliebte Führer Kim Jong-il im Mai in seinem gepanzerten Sonderzug nach Dalian (Dairen/Port Arthur), Tianjin und Peking reiste, wurde er überall mit großem Bahnhof empfangen, als sei nichts geschehen. China bot dem gesundheitlich schwer angeschlagenen 68jährigen erneut den Ausbau des nordkoreanischen Hafens Rason (früher Tokubetsu-Shi/Rajin-Sonbong) am Tjumen an der Grenze zu Sibirien an. Dies würde Peking einen direkten Zugang von der Mandschurei zum Japanischen Meer ermöglichen. Zugleich ist China an der Erschließung der reichen Rohstoffvorkommen des Nordens interessiert, was allerdings schon Kims Vater, der 1994 verstorbene Große Führer Kim Il-sung, aus nationalistischen Gründen immer abgelehnt hatte. So sucht China die Gunst der Stunde wirtschaftlich zu nutzen. Sanktionen hat Peking dank seiner langen Grenze zu Nordkorea ohnehin stets unterlaufen.

Seoul denkt derweil laut über neue Sanktionen gegen die Waffenexporte des Nordens und ihre Finanzkanäle nach. US-Präsident Barack Obama steht unter dem Druck des Kongresses, Nordkorea wieder auf die Liste der Terrorstaaten aufzunehmen. Damit würden die Auslandsgelder des Nordens erneut eingefroren. Auch könnte die südkoreanische Fernsehgesellschaft SBS die Übertragung der Fußballspiele der Nordkoreaner aus Südafrika blockieren. Südkoreas Präsident Lee Myung-bak hat die Wiederaufnahme der Lautsprecherpropaganda an der Waffenstillstandszone angekündigt. Sie ist anscheinend bei den nordkoreanischen Soldaten im Grenzbereich so wirksam, daß Pjöngjang sofort drohte, man werde alle Lautsprecher unter Feuer nehmen. Ohnehin kündigte Kim an, neue Sanktionen als Kriegsgrund zu werten und militärisch zu beantworten. Die Streitkräfte wurden vorige Woche in Alarmbereitschaft versetzt (JF 22/10).

Aus der vom Süden entwickelten nordkoreanischen Wirtschaftszone Kaesong (Kaij), wo 40.000 Nordkoreaner für Niedriglöhne (und zum Wohle des devisenhungrigen Kim-Regimes) südkoreanische Industrieprodukte herstellen, ließ der Norden eintausend südkoreanische Manager und Vorarbeiter ausweisen.

In dem 1931 von den Japanern per Elektroeisenbahn erschlossenen und ab 1998 von südkoreanischen Firmen ausgebauten Touristengebiet im malerischen Diamantgebirge (Kumgangsan/Kong-san) kündigte Kim die Enteignung aller südkoreanischen Hotels und Gebäude an. Ohnehin war der vom Ex- Hyundai-Chef Chung Ju-yung initiierte devisenträchtige Tourismus nach der Erschießung einer Südkoreanerin durch einen Grenzposten des Nordens vor einem Jahr zum Erliegen gekommen. Ob Kaesong, wo Nordkorea eine Milliarde Dollar jährlich an Devisen verdient, ein ähnliches Schicksal droht, wird sich zeigen. Derzeit drohen alle Entspannungsprojekte der verblichenen Sonnenscheinpolitik des südkoreanischen Ex-Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung in Tränen zu enden.

Über die Gründe der Aggressionspolitik des Nordens gibt es nur Spekulationen. Fest steht, daß der diabetes- und herzkranke Diktator Kim Jong-il 2008 ein oder zwei schwere Schlaganfälle erlitt und seine Nachfolge bislang noch nicht ausreichend vorbereitet hat (JF 46/09). Sein Wunschkandidat ist sein in der Öffentlichkeit unbekannter dritter Sohn Kim Jong-un, von dem man nur weiß, daß er etwa 28 ist und die Internationale Schule in Bern besucht hat.

War die Cheonan-Versenkung ein Racheakt für ein Seegefecht im letzten November, bei dem ein nordkoreanisches Kriegsschiff in Brand geschossen wurde? Wurde der Angriff von dem möglicherweise unzurechnungsfähig gewordenen Diktator angeordnet? Oder wurde er gar von einer Fraktion militärischer Hardliner auf eigene Faust beschlossen? Sollte die Inthronisierung des bei der alten, von Kim hofierten Generalsclique unbeliebten, ungedienten Sohns bei der Sondersitzung des Volkskongresses Anfang Juni martialisch vorbereitet werden? Oder sollte der Torpedo-Angriff von den neuen Hungersnöten und Versorgungsengpässen nach der per Währungsschnitt erfolgten Enteignung der Kleinhändler im Vorjahr ablenken?

Wahrscheinlich ist an allen Motiven etwas dran. Doch niemand hat ein Interesse an einer Eskalation des Konflikts: der Süden nicht, weil dessen Hauptstadt Seoul nur 30 Kilometer entfernt von der Waffenstillstandslinie am 38. Breitengrad liegt und damit in Reichweite der in bombensicheren Bunkerstellungen eingegrabenen Artillerie des Nordens. China nicht, das keinen Zusammenbruch des nördlichen Klientelstaats und die Ausdehnung des US-Einflusses bis zu seinem Grenzfluß Grenzfluß Yalu (Amrokgang/ryokk) wünscht. Dafür hatte es im Koreakrieg von 1950 bis 1953 etwa 400.000 Soldaten geopfert.

Die USA nicht, weil sie den Israel potentiell nuklear bedrohenden Iran momentan für den größeren Gefahrenherd halten als den neuen Nuklearstaat Nordkorea. So beschränkt sich Washington bislang auf ein gemeinsames Seemanöver mit der südkoreanischen Marine. Ihre 28.000 im Süden stationierten Soldaten haben sie noch nicht in Alarmbereitschaft versetzt. Japan hat sich mit den Status quo widerwillig arrangiert.

Sollte Kim wider Erwarten mit seiner nur numerisch überlegenen 1,1-Millionen-Streitmacht doch militärisch zuschlagen, so kann es über das Ergebnis eines zweiten Koreakriegs keinen Zweifel geben: Die veralteten Waffensysteme von Marine, Luft- und Panzerwaffe hätten gegen südkoreanisch-amerikanische Verbände keine Chance. Seine Artillerie-, Atom- und Raketenwaffen dagegen könnten Zivilisten und der südkoreanischen Industrie maximale Verluste zufügen.

Es ist unwahrscheinlich, daß Kim einen Angriffsbefehl für einen Krieg erteilen wird, der ihn und seine kommunistische Dynastie auslöschen würde. Sicher aber werden er und seine Nachfolger vermehrt und rücksichtslos noch mehr auf die Karte der Nuklear- und Raketenrüstung für weitere Erpressungsmanöver setzen zumal China, Japan, Südkorea und der Westen wie bisher weiter nur zuschauen würden.

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