© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Porno ist Pop
Nicht zuletzt durch das Internet ist die Pornographisierung unter Jugendlichen zum kaum mehr eindämmbaren Phänomen geworden
Ellen Kositza

Seit etlichen Generationen schon klingt die Klage oder wenigstens das Erstaunen darüber an, daß „die Jugend“ immer früher sexuell aktiv werde. Unsere Eltern konstatierten das über unsere Generation, wir selbst über unsere jüngeren Geschwister, die wiederum über jene, die heute zu den Mittelstufen-Jahrgängen gehören.

Aufs ganze gesehen, ist dieses Empfinden irrig. Hildegard, eine der Ehefrauen Karls des Großen, starb 24jährig nach der Geburt ihres neunten Kindes. Eine Tochter Melanchthons überlebte im gleichen Alter das Kindbett nach der Geburt ihres sechsten Kindes nicht. Teenager-Schwangerschaften sind heute selten, Abtreibungen in diesem Alter machen keineswegs das Gros der Abbrüche aus. Das Alter, in dem erste sexuelle Erfahrungen gesammelt werden – gründlich abgesichert gegen die natürlichen Folgen zwar –, ist in den letzten Jahrzehnten leicht gesunken, doch immer noch entfernt von karolingischen und frühneuzeitlichen Üblichkeiten.

Das Problem ist demnach nicht die unzeitig frühe „Erweckung“, sondern die Wandlung der Sexualität zu einem Freizeitvergnügen. Ist das ein Problem? Und wenn ja, warum eigentlich? Könnte man es nicht sehen wie Bernhard Rabe-Rademacher, Leiter eines Jugendzentrums in Berlin-Wedding, der Sex mit „Befreiung“ assoziiert, weswegen er in Pornographie nichts Bedrohliches finden könne? Wenn seine jugendlichen Klienten ihn fragen, was von einem Gangbang (ein Favorit unter kursierenden Handyfilmchen: eine Handvoll Männer greift sich eine Frau) zu halten sei, antwortet er entspannt: „So was Ähnliches wie Gruppensex. Wir haben das früher auch gemacht.“

Johannes Gernet, gelernter Journalist des Jahrgangs 1980, hat in einem hervorragend recherchierten Buch die „Generation Porno“ unter die Lupe genommen. Er hat die wissenschaftliche und sozialpädagogische Crème des Porno-Diskurses getroffen; solche, die wie Bernd Siggelkow mit drastischen Bildern eine „sexuelle Tragödie“ an die Wand malen, und Abwiegler wie Rabe-Rademacher. Daneben traf er Porno-Produzenten und -darsteller, zitiert feministische Porno-Gegnerinnen und solche, die Porno als aktuelle Form „weiblicher Selbstbestimmung“ verstehen. Vor allem spricht er mit Jugendlichen – wohlbehüteten und abwägenden wie Carl, der sich in der Porno-Welt gut auskennt, und krasseren Jungs wie dem sechzehnjährigen Ric, einen sexuell Hyperaktiven, der Porno nicht nur konsumiert, sondern auch praktiziert und dem der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung längst entfallen ist. Wenn eine seiner „Ollen“ schwanger würde, so transkribiert Gernet ein Gespräch, würde er das Kind von einem Kumpel „raustreten“ lassen. Der Gesprächspartner hält das für eine Provokation. Ric: „Das ist kein Blödsinn, Alter. Du kennst mich nicht. Ich denk so, Alter.“ Zwischen Carl und Ric liegen Welten, aber: Porno ist Pop, soviel ist klar.

Ein gewisser porn chic ist längst gesellschaftstauglich, Pornoakteure reüssieren als gewöhnliche Gäste im familiären TV-Programm, die Mehrzahl der Jugendlichen rasiert sich den Intimbereich – eine Prozedur, die im Abendland lange den Huren vorbehalten war. Der Fäkalrapper Bushido verkauft seine „Lieder“ zum Lobe von Massenvergewaltigungen hunderttausendfach, wird einerseits als jugendgefährdend indiziert und erhält andererseits vielfache Auszeichnungen sowie Anbiederungen aus Politik, wie im Januar dieses Jahres vom CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer („Ich würde mir wünschen, daß Bushido einen Wahlkampfsong für uns macht“) und großen Teilen des Showbusiness. Heidi Klum läßt vor Millionenpublikum ihre kleinen Möchtegern-Models oben ohne als Striperinnen agieren. Kein 15jähriger (egal, welchen Geschlechts), der nicht schon mit Hardcore-Pornos auf den Handys von Klassenkameraden konfrontiert worden wäre. Selbst unter den 11- bis  bis 14jährigen haben 42 Prozent schon Erfahrungen mit Pornokonsum.

Gernet verzichtet darauf, diesen pornographischen Alltag, von dem Eltern selten etwas ahnen, zu skandalisieren. Er – nach eigener Aussage kein Porno-Gegner – stellt seine kritischen Fragen (ob Porno-Konsum nicht abstumpfe, wie es um das Frauenbild der Porno-Feunde und um aktuelle „Körperbilder“ bestellt sei, wie Jugendliche die Bilder in ihre eigene Sexualbiographie transformieren) und sammelt die Antworten, die er erhält.

Neu sind „unzüchtige Darstellungen“ nicht einmal als Massenphänomen. 1975 hatte die sozial-liberale Koalition den Porno-Paragraphen gelockert. Westdeutsche Porno-Kinos verkauften allein 1979 zehn Millionen Eintrittskarten. Ein Jahrzehnt später hatte die sexuelle Revolution per Videorekorder und VHS das heimische Wohnzimmer erreicht. Aber erst durch den digitalen Zugang per Internet ist die Abrufbarkeit von pornographischen Bildern kinderleicht (die Hälfte der Jugendlichen ab 14 hat einen eigenen Netzzugang), anonym und völlig kostenlos möglich geworden. Das Angebot von Porno-Seiten mit Bild- und Filmsequenzangeboten, die jede „Erotik-Videothek“ der achtziger Jahre beinahe noch züchtig erscheinen lassen, ist Legion.

Was nützt da die Behauptung, daß heutige Jugendliche eine enorme „Medienkompetenz“ aufweisen, konsumierte Perversionen als gleichsam „lyrisches Ich“ (Zitat Carl) der Darsteller zu dechiffrieren in der Lage sind und sich Abartigkeiten mit einer gewissen „Ironie“ anschauen? Daß aus den pornographischen Sehgewohnheiten in der jugendlichen Praxis meist keine Verrohung, sondern nur eine „sexuelle Verunsicherung“ resultieren soll, ist ein schwacher Trost. Gernet beschreibt auch nachvollziehbar, wie schwer, wenn nicht unmöglich es im globalen Netz ist, durch Sperrungen oder Löschungen illegale Formen der Pornographie einzudämmen.

Verzichtbar an Gernets Buch wäre allein der knappe „Ratgeberteil“ gewesen, der das Buch abschließt – er umfaßt ganze acht Seiten und gehört anscheinend zur gängigen Minimalforderung der Verlage in puncto „Praxisnähe“. Geraten wird unter anderem, sich bei Facebook mit seinem eigenen Kind zu „befreunden“ oder vom Büro aus mal „per Chat“ nachzufragen, wie die Hausaufgaben laufen – nun ja. Das Verdienst dieses umfassenden und hochaktuellen Buchs schmälert derlei Hilfe bei bestehender Hilflosigkeit nicht.

Johannes Gernet: Generation Porno. Jugend, Sex, Internet. Fackelträger Verlag, Köln 2010, gebunden, 224 Seiten, 19,95 Euro

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