© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

„Wir können auch das meistern“
Der Demographie-Experte Theodor Schmidt-Kaler über die „Mutter aller Krisen“
Moritz Schwarz

Herr Professor Schmidt-Kaler, warum ist die demographische Krise die „Mutter aller Krisen“?

Schmidt-Kaler: Weil die Bevölkerungsstabilität – ich sage mit Bedacht nicht einfach Bevölkerungswachstum – die Basis ist, auf der fast alle unsere sozielen Systeme beruhen. Das Diktum geht ja auf Saddam Hussein zurück, der 1990 von der „Mutter aller Schlachten“ gesprochen hat – die er allerdings bekanntlich mit Pauken und Trompeten gegen die Amerikaner verloren hat. Insofern die Phrase ein Desaster kennzeichnet, ist sie also in der Tat berechtigt. Denn die demographische Entwicklung hat zahllose Auswirkungen auf Renten-, Kranken-, Pflegeversicherung, Arbeits- und Wohnungsmarkt, kommunale Infrastruktur, öffentliche Finanzen, das Wirtschaftswachstum etc. etc. Ich persönlich sehe allerdings hinter der demographischen Krise noch eine weitere Krise, die ich – wenn schon – als die eigentliche „Mutter aller Krisen“ bezeichnen würde: Und das ist die Krise des deutschen Selbstbewußtseins seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Inwiefern?

Schmidt-Kaler: Insofern, als hinter all den Zahlen, Daten, Analysen zum Thema eine zentrale Frage steht, die zwar alles bestimmt, aber in der offiziellen Debatte nie offen angesprochen wird: nämlich daß die Voraussetzung für eine gesunde Demographie heute ist, daß überhaupt der politische Wille besteht, unsere Nation zu erhalten. Wenn dieser Wille fehlt, wenn den Angehörigen einer Gemeinschaft nur das persönliche Fortkommen wichtig ist, dann hilft auch alle politische Flickschusterei wie Elterngeld und Kita-Plätze nichts – dann wird diese Gemeinschaft untergehen. Aber das anzusprechen, traut sich kein Journalist und kein Politiker. Denn da sind seit dem Zweiten Weltkrieg die „Reeducation“ und heute die Political Correctness davor.

Wieso hängen alle eingangs von Ihnen genannten sozialen Sektoren vom Faktor Demographie ab?

Schmidt-Kaler: Sie dürfen nicht übersehen, daß durch den Volksschwund einerseits sowie durch die Überalterung unseres Volkes andererseits, denen wir statistisch entgegesehen, die Wachstumsrate des Volkseinkommens massiv abnehmen wird, was natürlich auch einen drastischen Einbruch der Steuereinnahmen zur Folge hat. Und das Ganze ist eine Abwärtsspirale: Der wirtschaftliche Abstieg wirkt sich erneut nachteilig auf die Geburtenrate aus, weil die Familien immer mehr unter Druck geraten, was die Demographie erneut schwächt, und so weiter und so fort. 

Die aktuelle Griechenland-Krise hat uns vor Augen geführt, wie verheerend es sein kann, wenn eine lang schwelende Krise beharrlich ignoriert wird.

Schmidt-Kaler: Eben, und die Finanzkrise ist in meinem Augen zum großen Teil auch Produkt demographischer Faktoren: In Griechenland stehen ja die exorbitanten Pensionslasten längst nicht mehr im Verhältnis zu dem, was das noch arbeitende Volk dort erwirtschaften kann. Übrigens sind ja die Hedge-Fonds, die immer wieder für so viel Schaden sorgen, erfunden worden, um die Pensionsfonds der angelsächsischen Nationen zu füttern. 

In der letzten Woche meldete das Statistische Bundesamt für 2009 die niedrigste Geburtenzahl seit Ende des Zweiten Weltkrieges: Im Vergleich zu 2008 ist sie um mehr als 20.000 gesunken. Reaktionen gab es nur am Rande.

Schmidt-Kaler: Da sehen Sie, welchen Stellenwert das Thema bei Politik und Journaille hat. Kein Wunder, denn sonst müßte sich ja erstere eigenes Versagen und letztere die eigene Verantwortungslosigkeit vorwerfen.  Der Jubel über den leichten Anstieg der Geburtenzahlen 2007 ist inzwischen betretenem Schweigen gewichen. Damals hatte die Bundesregierung den Anstieg lauthals als Erfolg ihrer Familienpolitik gefeiert. Tatsächlich aber hatten lediglich viele Eltern die Verwirklichung ihres Kinderwunsches vom Jahr 2006 auf das Jahr 2007 verschoben, um vom 2007 eingeführten Elterngeld profitieren zu können, wie das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie in Sankt Augustin ganz richtig festgestellt hat. 2006 war dadurch ein besonders schwaches Jahr, 2007 war stärker. Aber dieser sogenannte „Timing“-Effekt, wie die Demographen sagen, ist längst verflogen. Alles, was die Bundesregierung verbuchen kann, ist ein propagandistischer Erfolg 2007, der nichts mit wirklicher Politik im Sinne von Nachhaltigkeit zu hat. Wie nachhaltig diese Politik tatsächlich ist, sehen wir ja jetzt bei den Zahlen für 2009, die ein Desaster sind: ein Rückgang um 3,6 Prozent auf nur noch 651.000 Kinder. Übrigens: Fast ein Viertel davon – so zumindest die Zahlen für 2008 – haben bereits nur noch einen deutschen Elternteil.

Sie wurden in den siebziger und achtziger Jahren von der Bundesregierung als Experte gehört. – Und haben schon damals frühzeitig vor der Entwicklung gewarnt.  

Schmidt-Kaler: Ja, aber genützt hat es nichts. Konrad Adenauer war nach meiner Ansicht der letzte bedeutende Bundeskanzler, der noch nachhaltig gedacht hat.

Die von ihm dynamisierte Rente legt aber doch wohl genau das Gegenteil nahe?

Schmidt-Kaler: Irrtum, diesen Fehler hat Adenauer gerade deshalb gemacht, weil er an sich nachhaltig dachte. Für ihn war klar: „Kinder kriegen die Leute immer.“ Und das dachte er, weil er in der Zeit des wilhelminischen Deutschland sozialisiert worden ist, mit seiner überaus potenten Bevölkerungsentwicklung und seinem politischen Selbstverständnis, nach dem der Erhalt des deutschen Volkes unwidersprochen Ziel der genzen Gesellschaft war. Ich erinnere mich, wie der Alte als Bundeskanzler etwa einmal wie selbstverständlich auch auf den roten Teppich trat, der eigentlich nur für die alliierten Hochkommissare ausgelegt war. Für Adenauer war es natürlich, daß Fortbestand und Interessenvertretung des deutschen Volkes Priorität hatten. Und weil er sich nicht vorstellen konnte, daß es einmal anders kommen würde, meinte er sich so was wie die dynamische Rente leisten zu können. Zu meiner Zeit hatte sich der Wind allerdings längst gedreht. Ich erinnere mich noch, wie 1981 ein gewisser Bert Rürup, damals Berater im Bundeskanzleramt, zu einer Tagung der Deutsche Gesellschaft für Demographie kam und dort den „Pro-Natalisten“, also allen, die wie ich kurz zuvor das „Heidelberger Manifest“ unterzeichnet hatten, klarmachte: Wer sich in unserem Sinne weiter kritisch widersetze, müsse künftig mit Schwierigkeiten in puncto Karriere rechnen, wer dagegen mit der Politik der Bundesregierung kooperiere, könne auf Belohnung hoffen.

1981 hatten Sie zusammen mit 14 Kollegen das „Heidelberger Manifest“ lanciert, einen öffentlichen Appell, in dem letztmalig bis heute etablierte Professoren gemeinsam vor den Folgen der Masseneinwanderung und des Verfalls der Geburtenziffern warnten.

Schmidt-Kaler: Ja, denn Bevölkerungsentwicklung, Einwanderung, Geburtenrate, all das kann man nicht als Situation beschreiben, sondern nur als Prozeß: Feste Zahlen transportieren nicht die eigentliche Information, diese ist erst in den Faktoren enthalten, die auf die Zahlen einwirken. Und der entscheidende Faktor ist die Natalität. Einwanderung findet bei uns ja längst nicht mehr über die Grenzen, sondern über die Kreißsäle statt. Und genauso „verschwinden“ die Deutschen nicht sichtbar außer Landes, sondern unsichtbar. Sprich: Kindergärten werden dichtgemacht, Friedhöfe erweitert.   Aber natürlich kam es, wie es kommen mußte, Studenten begannen die Unterzeichner des Manifests zu terrorisieren, einer wurde sogar zusammengeschlagen, und bis auf wenige Ausnahmen wurden wir als „Rechte“ und „Ausländerfeinde“ abgestempelt, unbeachtet der Tatsache, daß es völlig absurd ist, Einwanderer pauschal mit jeder Art von Ausländern in Deutschland gleichzusetzen oder „Begrenzung“ mit „Feindlichkeit“.

Der Soziologe Robert Hepp, der in den achtziger Jahren ebenfalls engagiert für eine Öffnung der Debatte um Geburtenentwicklung und Einwanderung kämpfte, vertritt heute die Auffassung, daß es für ein Umsteuern in Sachen Demographie inzwischen zu spät sei. Hat er recht?

Schmidt-Kaler: Recht hat der Kollege Hepp damit, daß heute die Elterngeneration der künftigen Kinder bereits von einem zu schwachen Jahrgang gestellt wird. Man muß verstehen, daß es sich bei Demographie um einen exponentiellen Prozeß handelt: Das ist wie bei der Legende vom Reiskorn auf dem Schachbrett: Verdoppelt man die Anzahl der Reiskörner auf einem Schachbrett jeweils auf jedem der nur 64 Felder, müßten bereits auf dem letzten Feld eine Trillionen-Zahl von Reiskörnern liegen, was angeblich die gesamte Weltjahresproduktion übersteigt. Und das funktioniert auch in der anderen Richtung: Verringert man die Zahl der Reiskörner – bzw. Kinder – entsprechend, ist der Schwund bald ebenso dramatisch.

Der bekannte Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg schreibt: „Bis zur Jahrhundertmitte nimmt die Zahl der versorgungsberechtigten Älteren explosionsartig zu, die der Jüngeren implosionsartig ab.“

Schmidt-Kaler: In der Tat könnte heute nicht einmal eine plötzliche, wunderbare Hebung der Geburten auf die Reproduktionsrate von 2,1 Kinder pro Familie den Sturz ins Bodenlose der nächsten Jahrzehnte aufhalten. Insofern haben Hepp und Birg schon recht, daß es bereits „dreißig Jahre nach zwölf“ ist, wie letzterer formuliert hat. Dennoch will ich nicht so pessimistisch sein. Denn für mich ist klar, daß wir in Deutschland selbst diese Krise meistern könnten, wenn nur der unbedingte politische Wille nach Erhalt unseres Volkes vorhanden wäre. Denn Deutschland hat schon ganz anderes überstanden. Mein Pessimismus speist sich also weniger aus den Zahlen als aus dem Anblick der desolaten politischen und geistigen Führung unseres Volkes. Genau darin aber liegt nach meiner Ansicht auch unsere Chance: Wir sind den Zahlen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, sondern die Deutschen haben immer noch die Freiheit zur Entscheidung über ihr künftiges Schicksal. 

Was müßte jetzt also nach Ihrer Meinung geschehen?

Schmidt-Kaler: Konkret: Erstens, Bevölkerungspolitik läuft auch über das Sozialbudget. Deshalb muß dieses gezielt zur Förderung unseres Staatsvolkes eingesetzt werden. Wenn also etwa ein Türke deutscher Staatsbürger ist, so muß auch er in dessen Genuß kommen, nicht aber seine ganze Großfamilie, auf die das nicht zutrifft. Zweitens, bei der Vergabe von Arbeitsplätzen müßten informell – also nicht staatlich geregelt, sondern per gesellschaftlicher Konvention – Arbeitnehmer mit Familie bevorzugt werden. Drittens, Gelder dürfen nicht mehr für Banken-Rettung ausgegeben werden oder nach Griechenland fließen. Da würden gewaltige Summen gespart werden, die dann massiv in die Familien investiert werden könnten. Aber wie gesagt, Gesetze und finanzielle Wohltaten helfen gar nichts, wenn uns der Wille zum Dasein fehlt.

 

Prof. Dr. Theodor Schmidt-Kaler, der Demographie-Experte beriet mehrfach Bundesministerien während der Kabinette Schmidt und Kohl zu demographischen und rentenpolitischen Fragen, ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Demographie (www.demographie-online.de) und veröffentlichte zahlreiche Artikel zum Thema, etwa in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft oder der Parlament-Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte. Der 1930 im oberfränkischen Seibelsdorf geborene Naturwissenschaftler lehrte in Bonn, Toronto und Bochum, war Präsident der Astronomischen Gesellschaft und ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen und der Europäischen Akademie der Wissenschaften. Er war Mitunterzeichner des „Heidelberger Manifests“, mit dem 1981/82 vierzehn deutsche Professoren und ein Bundesminister a. D. vor den Folgen der Massenzuwanderung warnten.

 

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