© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Morden auf tschechisch
Ein im letzten Jahr aufgetauchter Film über Massaker an Deutschen im Mai 1945 in Prag lenkt den Fokus auf Benes’ Meuchelkommandos
Paul Leonhard

Staatspräsident Václav Klaus legt am Mittag des 5. Mai vor dem Gebäude des Tschechischen Rundfunks in Prag einen Kranz nieder. Zwei Tage später gedenken Vertreter der Armee und der Politik auf dem Prager Friedhof Olsany der bei der Befreiung der Tschechoslowakei von den Nationalsozialisten ums Leben gekommenen Menschen. Gleichzeitig wird im Senat die Ausstellung „1945 – Kriegsende in Europa“ eröffnet. Noch einmal einen Tag später wird in der tschechischen Hauptstadt des Kriegsendes gedacht. An den Denkmalen der gefallenen tschechischen und russischen Gefallenen werden Kränze niedergelegt.

Insofern unterschieden sich die Feiern zum Kriegsende in diesem Jahr in nichts von denen der Vorjahre: einseitig und allein aus tschechischer Perspektive. Wobei offenbleibt, inwieweit die Politiker zu den zu ehrenden russischen Opfern auch jene 300 gefallenen Soldaten der 1. Division der Russischen Befreiungsarmee (ROA) zählte, die, nachdem sie zuvor auf deutscher Seite gekämpft hatte, als einzige militärische Einheit den Prager Aufständigen vom 5. Mai zu Hilfe kam.

Für Aufsehen sorgte dagegen das Prager Fernsehen CT 24 am Abend des 6. Mai. Unter dem Titel „Abschlachten auf tschechisch“ oder – wie es Radio Prag etwas milder umschreibt – „Töten auf tschechische Art“ strahlte es eine einstündige Dokumentation über die von Tschechen an ihren deutschen Mitbürgern, aber auch an Kriegsgefangenen ab Mai 1945 verübten Verbrechen aus. Mit welcher Brutalität tschechische Miliz und Zivilisten gegen deutsche Frauen, Kinder und verwundete Soldaten vorgingen, ist zwar in Deutschland durch unzählige Augenzeugenberichte dokumentiert, aber von tschechischer Seite zumeist als Propaganda abgetan worden.

Jetzt wurde die Öffentlichkeit aber mit einem Film des tschechischen Amateurfilmers Jiri Chmelicek konfrontiert. Dieser hatte heimlich aus seinem Haus ein Massaker gefilmt. Der tschechische Regisseur David Vondracek hat Chmeliceks bis 1990 verheimlichtes Material in seine Dokumentation eingebaut, in der er unter anderem auch auf die Massenmorde im nordböhmischen Postelberg (Postoloprty) eingeht, wo Hunderte deutsche Zivilisten zwischen 15 und 60 Jahren und ebenso viele Kriegsgefangene getötet wurden. „Die Toten von Postelberg sind Teil des größten Massenmordes zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Ereignissen im bosnischen Srebrenica 1995“, sagt Vondracek.

Amnestie der Mörder bis heute durch Beneš-Dekrete

Wie grausam Tschechen gegen ihre Landsleute „deutscher Nationalität“ wüteten, beschreibt beispielsweise Jürgen Thorwald in seinem Buch „Das Ende an der Elbe“: „Auf dem Wenzelsplatz, auf dem Karlsplatz und in der Rittergasse wurden nicht nur SS-Leute mit Benzin übergossen und mit den Füßen nach oben an Masten und Laternen hochgezogen und angezündet.“ Kinder wurden in Löschwasserbehältern ertränkt, Mütter aus den Fenstern geworfen, viele mit Knüppeln niedergeschlagen und zu Tode getrampelt. So berichtet Bozena Pesicka aus Kladno bei Prag über die Mißhandlung und Ermordung von weit mehr als hundert Soldaten der Waffen-SS, der Wehrmacht und deutscher Zivilpersonen vor der Kaserne und an der Friedhofsmauer von Kladno. 

Fotos von den erschlagenen Deutschen auf dem Wenzelsplatz sind seit langem bekannt. Auch in der tschechischen Literatur finden sich immer wieder Hinweise auf die bestialischen Morde speziell in Prag. Es sind vor allem junge tschechische Journalisten, die sich jetzt diesem Kapitel zuwenden. So stellte Miroslav Mares von der Tageszeitung Denik im Oktober 2009 Strafanzeige. Er zwang damit die Kriminalpolizei von Brünn, zu einem Massenmord an mindestens elf Männern zu ermitteln, der sich in der Nacht zum 20. Mai 1945 nahe Dobrenz (Dobornin) ereignet hatte. Es sei für ihn nicht wichtig, „ob es Deutsche oder Tschechen waren“, so Mares: „Es waren aber in jedem Fall Menschen, und daher kann man von einem Verbrechen sprechen.“

Der Film hat jedenfalls eine überfällige Debatte über die Morde und die Täter ausgelöst. Die Morde von Borislavka seien nach Ansicht von Historikern von tschechischen Revolutionsgarden und selbsternannten „Hurra-Partisanen“ begangen worden, sagt Regisseur Vondracek. Und nach deren Argumentation sei es ein sowjetischer Soldat gewesen, der die zum Teil noch lebenden Menschen mit seinem Lastwagen überfahre. Der tschechische Militärhistoriker Eduard Stehlek wird mit der Aussage zitiert, daß auch sowjetische Soldaten die Zivilisten exekutiert hätten. In vielen Fällen sind zumindest die Haupttäter bekannt. Verantworten mußten sie sich allerdings nicht, da alle an Deutschen begangenen Morde unter ein bereits im Mai 1946 verabschiedetes Amnestiegesetz fielen. Die Tageszeitung Lidove noviny legt den Finger auf die Wunde, wenn sie schreibt, daß der Genozid an den Deutschen bis heute durch die weiterhin gültigen Beneš-Dekrete und das Amnestiegesetz weiterhin verteidigt wird. Überdies scheinen viele Tschechen weiterhin der Meinung zu sein, daß die Zeiten damals eben revolutionär gewesen seien und die Deutschen es nicht anders verdient hätten.

Wie viele Deutsche dem tschechischen Mob nach Kriegsende zum Opfer fielen, ist unbekannt. Das Statistische Bundesamt schätzte 1958 die Zahl der Deutschen, deren Schicksal nicht geklärt ist, auf 225.600. Eine gemeinsame deutsch-tschechische Historikerkommission einigte sich 38 Jahre später auf 19.000 bis 30.000 deutsche Opfer, während die tschechoslowakischen Opfer mit 360.000 angegeben wurde. Letztere Zahl könnte durchaus stimmen. Denn völkerrechtlich sind die ab Mai 1945 ermordeten deutschen Zivilisten – soweit es sich nicht um Reichsdeutsche handelte – tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Nationalität. Die Internetseite von Radio Prag zitiert Regisseur Vondracek ahnungsvoll: „Sicher wird ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit diese Tatsachen nicht wahrhaben wollen. Die Phase der Selbstreflexion über die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg steht erst an ihrem Anfang.“ Schon ein oberflächlicher Blick in die in Deutschland gesammelten Augenzeugenberichte jener Zeit läßt über das Grauen erschaudern, mit dem sich eine junge tschechische Historikergeneration demnächst auseinandersetzen wird.

Die Dokumentation „Töten auf tschechisch“ ist unter folgendem Link zu finden: http://www.ct24.cz

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