© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Gesundheitswesen im Umbruch
Der gesetzliche wie private Gesundheitsmarkt muß auf eine solide Finanzierungsbasis gestellt werden
Jens Jessen

Vorige Woche fand in Dresden der 113. Deutsche Ärztetag statt. Vier Tage lang diskutierten die Vertreter der deutschen Mediziner über ihre alltäglichen Probleme und Grundsatzfragen wie die Finanzierung des medizinischen Fortschritts und neuer Behandlungsmethoden. Die Zeiten sind schwierig. Die Belastung mit nichtärztlichen Tätigkeiten nimmt zu. Die Einmischung in die ärztliche Tätigkeit führt zu abnehmender Bereitschaft, die kurative Medizin nach bestandenem Examen und Praktischem Jahr auch tatsächlich auszuüben. Das vertragsärztliche Vergütungssystem verbannt den niedergelassenen Arzt in das Hamsterrad der Fließbandmedizin. Es muß so weiterentwickelt werden, daß eine leistungsgerechte Honorierung das wesentliche Element der Honorarordnung ist.

Immer mehr Jungärzte gehen in die Forschung, die ihnen mehr Freiheit gibt als das Zwangskorsett staatlicher Bevormundung. Diese Entwicklung macht die Sicherstellung der wohnortnahen Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen immer schwieriger. In einigen Gebieten stehen mehr als fünfzig Prozent der niedergelassenen Ärzte kurz vor dem Ausstieg aus der Praxis. Noch vor 20 Jahren drängelten sich die Bewerber für einen Kassenarztsitz vor der Tür. Heute können die Kassenarztsitze wegen fehlender Nachfrage nicht mehr besetzt werden. Die ländlichen Regionen lassen sich schon heute zum Teil nicht mehr in ausreichendem Umfang versorgen.

Die ständige Ausweitung der Bürokratisierung ärztlicher Versorgung hat die Jungärzte verscheucht. Noch vor wenigen Jahren hat die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Befürchtung als Unsinn bezeichnet, daß in den ländlichen Regionen und in den städtischen sozialen Brennpunkten in absehbarer Zeit Ärztemangel herrschen könnte. Die Krankenkassen schlossen sich der Ansicht der Ministerin wider besseres Wissen an. Der Ärztemangel ist allgemein zu beobachten. Zur Zeit kann jedes vierte Krankenhaus seine Arztstellen nicht voll besetzen. Trotz absolut steigender Arztzahlen nimmt die Attraktivität der kurativen ärztlichen Tätigkeit in Deutschland kontinuierlich ab.

Politik soll Freiberuflichkeit der Ärzte erhalten

Schon der Deutsche Ärztetag 2009 hatte die Forderung nach einer konzertierten Aktion der Selbstverwaltungspartner und Planungsbehörden auf Landesebene gemeinsam mit den Landesärztekammern und den Kommunen erhoben, um den Versorgungsengpässen in der Fläche entgegenzutreten und insbesondere Maßnahmen zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung zu treffen. Viel Gegenliebe kam nicht von den Selbstverwaltungspartnern und den Planungsbehörden. Statt dessen ist im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenz andiskutiert worden, die Übernahme des Sicherstellungsauftrags für die ambulante Versorgung durch die Landesministerien zu übernehmen. Damit läßt sich die Attraktivität der kurativen Medizin nicht steigern. Die Attraktivität muß im Studium einsetzen. Ein frühzeitigeres Heranführen der Studierenden der Medizin an den Versorgungsalltag ist eine erfolgversprechendere Maßnahme gegen den Ärztemangel in Klinik und Praxis als die vorgeschlagene Abschaffung des Numerus clausus oder die Einführung einer „Landarztquote“.

Sämtliche Studien zur Ursachenanalyse des Ärztemangels zeigen, daß die ärztliche Tätigkeit in hohem Maß vom Sinngehalt der Arbeit, den inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten sowie von Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung, Kollegialität und Führungsstruktur bestimmt wird. Dazu gehört auch die Garantie, daß alle Bestrebungen einer Demontage und Deprofessionalisierung des Arztberufs beendet wird. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Weisungsunabhängigkeit von Kostenträgern, Geschäftsführungen und Politik muß wieder hergestellt werden, damit die Freiberuflichkeit der Ärzte erhalten bleibt.

Das Gesundheitswesen ist nach wie vor ein großer Wachstums- und Arbeitsmarkt. Es driftet zur Zeit aber mehr und mehr in den zweiten Gesundheitsmarkt ab, der von den Investoren als profitabler Wachstumsmarkt gesehen wird. Die Ärzte begreifen ihre originäre Aufgabe jedoch in der medizinisch notwendigen Versorgung der Patienten und nicht im Angebot von Wellness-Leistungen. Der Deutsche Ärztetag hat mit Nachdruck klargestellt, daß ein stabiler erster Gesundheitsmarkt, der die medizinisch notwendige Versorgung der gesetzlich und privat Versicherten abdeckt, die Voraussetzung für ein sozial ausgewogenes Gesundheitswesen und der entscheidende Motor für die Innovations- und Wirtschaftskraft des Gesundheitssektors ist. Der erste Gesundheitsmarkt muß auf eine solide Finanzierungsbasis gestellt werden, sonst kann er seine Wirtschaftskraft und sein Potential für den Arbeitsmarkt nicht entfalten. Die bisher vorgenommenen Strukturreformen haben den Finanzbedarf nicht in den Griff bekommen. Eine schrittweise Abkehr von dem reinen Umlageverfahren und eine stufenweise Einführung von Kapitaldeckung und Bildung von Altersrückstellungen sind hier der richtige Weg zu einem demographiefesten, sozialverträglichen Finanzierungsmodell.

Bausteine für ein Finanzierungsmodell werden von der Versorgungsforschung wissenschaftlich erarbeitet. Die Darstellung der Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen durch das Sachverständigengutachten von 2000 hat die Versorgungsforschung in Fahrt gebracht. Sie betrachtet die alltägliche medizinische Versorgung einzelner Patienten und der Bevölkerung in Krankenhäusern, Arztpraxen und weiteren Gesundheitseinrichtungen. Die Versorgungsforschung untersucht, wie Finanzierungssysteme, soziale und individuelle Faktoren, Organisationsstrukturen und -prozesse und Gesundheitstechnologien sowie deren Ergebnisse Qualität und Kosten beeinflussen. Versorgungsdefizite werden identifiziert, neue Versorgungskonzepte entwickelt und umgesetzt sowie deren Wirksamkeit evaluiert. Im Hinblick auf den Ärztemangel gibt es im Rahmen der Förderinitiative Versorgungsforschung der Bundesärztekammer wichtige Ergebnisse, die nachweisen, daß für viele Ärzte bei einer Niederlassung in strukturschwachen Regionen nicht allein das Einkommen ausschlaggebend ist. Berufliche Perspektive für den Lebenspartner, gute Schulen für die Kinder und andere Faktoren sind entscheidend für die Entscheidung, als Landarzt zu arbeiten.

Mittlerweile hat auch die Bundesregierung die Bedeutung der Versorgungsforschung erkannt. Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und FDP den systematischen Ausbau dieses Forschungsbereichs angekündigt: „Die Gesundheitsforschung trägt dazu bei, mit Innovationen die Lebensqualität von Menschen aller Lebenslagen zu erhöhen und gleichzeitig die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens zu sichern.“

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