© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Weltpolitik
Karl Heinzen

Als Angela Merkel am 9. Mai in Moskau die große Militärparade zur Erinnerung an die Niederringung des Hitlerfaschismus mit abnahm, dürften in den Hauptstädten unserer westlichen Verbündeten die Alarmglocken erklungen sein. Konnte man wirklich davon ausgehen, daß es bloß die Erfurcht vor der historischen Leistung der Roten Armee wäre, die sie dazu triebe, die drängende Aufgabe von heute – den Euro und damit die EU zu retten – einen Augenblick ruhen zu lassen? Hatten nicht sogar Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy, die ansonsten jede Gelegenheit nutzen, um sich eitel in Szene zu setzen, Geschichte Geschichte sein lassen und die Reise nach Moskau storniert?

Durfte man daher nicht vermuten, daß die als pragmatisch, unsentimental und durchaus listenreich anerkannte Kanzlerin mit ihrer Präsenz auf der Ehrentribüne im Zentrum einer von Stalin-Devotionalien geschwängerten Stadt ein Signal setzen wollte, zum Beispiel ein „Bis hierhin und nicht weiter“ gegen die Versuche, Deutschland die Hauptlast in der Bewältigung der europäischen Krise aufzubürden?

Wäre ihr demonstrativer Schulterschluß mit Dmitri Medwedew und Hu Jintao als den Repräsentanten der beiden eurasischen Führungsmächte so betrachtet nicht als ein Wink zu verstehen, daß es für Deutschland auch Bündnisalternativen gibt? Und könnte nicht gerade Angela Merkel qua ihrer Herkunft aus der DDR, ihrer FDJ-Prägung in Jugendjahren und ihrer exzellenten russischen Sprachkenntnisse als dazu prädestiniert gelten, jenen durch die Wiedervereinigung zu einem gesamtdeutschen gewordenen außenpolitischen Traditionsstrang zu verkörpern, der die Hand nicht nach Westen, sondern nach Osten ausstreckt?

Ein Szenario, in dem das technologische Potential Deutschlands, die industriellen Kapazitäten Chinas und der Ressourcenreichtum Rußlands zu einem eurasischen Kontinentalblock zusammenfinden, ist als eine apokalyptische Eventualität in den Planungsstäben in Washington, London und Paris schon seit langem immer wieder ausgemalt worden. Dieser wunde Punkt des Westens darf nicht berührt werden, wenn man irrationale Reaktionen vermeiden will. Wahrscheinlich hat Angela Merkel mit ihrer Reise nach Moskau bloß zeigen wollen, daß Deutschland zu seiner historischen Verantwortung steht. Selbst diese redliche Absicht kann aber, wenn man nicht aufpaßt, mißverstanden werden. Weltpolitik vom Zuschnitt eines Bismarcks ist in Deutschland zwar nicht erst seit 1945, sondern bereits seit 1890 passé. Dies haben aber im Ausland nicht alle begriffen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen