© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Der Herr der Keime
Wohltäter der Menschheit: Mit Robert Koch begann eine glanzvolle Epoche deutschen Forschergeistes
Michael Manns

Jahrtausendelang waren Infektionskrankheiten die größten Geißeln der Menschheit. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Medizin praktisch machtlos gegen die großen Seuchen wie Cholera und Pest. In den siebziger Jahren schuf ein bescheidener Landarzt aus Wollstein in Posen die Voraussetzungen für Erforschung der Bakterien. Sein Name: Robert Koch. Am 27. Mai jährt sich sein Todestag zum hundertsten Mal. Dieser Wohltäter der Menschheit schuf mit seinen Schülern das imponierende Gebäude der Bakteriologie und läutete eine glanzvolle Ära in der Geschichte der deutschen Naturwissenschaften ein.

Hamburg im Sommer 1892: Ein Kanalarbeiter wird mit starkem Brechdurchfall in ein Krankenhaus eingeliefert und stirbt kurz darauf. Am 21. August fallen weitere drei Menschen der Krankheit zum Opfer. Anfänglich ist der Senat nicht sehr besorgt, denn man hält die Krankheit für die „cholera nostras“ (Salmonellenenteritis), die wie jedes Jahr im Sommer auftrat. Aus Rücksicht auf die Wirtschaft werden die Todesfälle verheimlicht und keine Maßnahmen ergriffen. Auswandererschiffen werden noch nach Ausbruch der Krankheit wider besseres Wissen gesundheitliche Unbedenklichkeitszeugnisse ausgestellt, so daß die Cholera auf diesem Wege nach New York gelangte.

Die Zahl der Erkrankten steigt an. Am 22. August sind 1.100 Hamburger an der Seuche erkrankt, 455 gestorben. Viele Bürger fliehen aus der Stadt. Jeglicher Verkehr mit Hamburg kommt zum Erliegen, und der Handel steht still. Im Auftrag der Reichsregierung eilt der Virologe Robert Koch in die Stadt und bestätigt öffentlich den Ausbruch der Cholera – damals die gefürchtetste Seuche der Welt. Auf seinen Befehl hin werden nun die Schulen geschlossen und Versammlungen verboten. Die Werft Blohm & Voß stellt ihren Reparaturbetrieb ein. Arbeiter schaufeln Tag und Nacht Gräber.

In aller Eile wird eine Sandfiltrationsanlage für das Trinkwasser errichtet. Nach zehn Wochen nimmt die Zahl der Neuerkrankungen ab. Die traurige Bilanz: Insgesamt waren während der Epidemie 16.956 Menschen erkrankt und 8.605 gestorben.

Seit 1926 ist Europa cholerafrei

Robert Koch hatte Schlimmeres verhindert. Nach seinen Grundsätzen wurde dann das Reichsseuchengesetz von 1900 aufgebaut. So verliefen die nächsten Choleravorstöße deutlich glimpflicher, und seit 1926 ist Europa cholerafrei.

Wer war dieser Wohltäter der Menschheit? Die Karriere Kochs (geboren 1843) begann 1876 in Breslau. Jahrelang hatte er mit einem Mikroskop, das er sich vom Munde abgespart hatte, Studien auf den Milzbrandbazillus betrieben. Im Blute verendeter Tiere hatte er merkwürdige Stäbchen entdeckt. Er konnte die lebenden Keime isolieren, züchten und gesunde Tiere damit infizieren, die prompt erkrankten. Er hatte die Sporen entdeckt.

Mit Koffern, Kisten und Käfigen voller weißer Mäuse reiste der Landarzt zu Ferdinand Cohn, einem berühmten Professor an der Universität Breslau. Fünf Tage lang führte Koch seine Experimente vor. Er brauchte nicht zu reden, er brauchte nur zu demonstrieren. Koch konnte auch sofort das Mittel angeben, mit dem man den Milzbrand ein für allemal beseitigen konnte: Verbrennt jedes an dieser Krankheit verendete Tier, damit sich im Körper keine Sporen ausbilden können.

Der Pathologe Julius Cohnheim trommelte wie elektrisiert seine Assistenten zusammen und rief: „Nun lassen Sie alles stehen und liegen und gehen Sie zu Koch. Dieser Mann hat eine großartige Entdeckung gemacht, die größte auf dem Gebiet der Mikroorganismen. Ich glaube, daß Koch uns alle noch einmal mit weiteren Entdeckungen überraschen und beschämen wird.“

Vier Jahre später wurde er nach Berlin ans Reichsgesundheitsamt berufen. In der Zwischenzeit gelangen ihm zwei weitere Fortschritte: Er hatte gelernt, die Bakterien zu färben, und er hatte begonnen, die Mikroben durch das Mikroskop zu fotografieren. Koch gelang dabei ein fundamentaler Durchbruch, ohne den sich die moderne Bakteriologie nicht mehr denken läßt: Er stellte feste Nährböden her, die sich leicht und sicher sterilisieren lassen. So erhitzte er Gelatine mit Fleischwasser und anderen Zusätzen, goß sie in Reagenzgläser oder Schalen, worin die Maße erstarrte und durchsichtig blieb. Und auf dieser starren Gallerte wuchsen die Bakterien.

Die nächste Aufgabe, die der Virologe anpackte, war die Suche nach dem Erreger der Tuberkulose. Es gelang ihm schließlich, den Erreger durch Färbung sichtbar zu machen und ihn auch fortzuzüchten.

Am 24. März 1882 hielt er im Berliner Hygienischen Universitätsinstitut den berühmten Vortrag „Über Tuberkulose“. Er ließ Dutzende von Mikroskopen aufstellen, besorgte selbst die Einstellung der Präparate. Die Spannung wuchs, zumal außer Kochs Mitarbeitern niemand wußte, was zur Sprache kommen würde.

Nach dem Vortrag herrschte atemlose Stille. Keiner seiner großen Kritiker meldete sich zu Wort. Es geschah in den Annalen der Berliner Physiologischen Gesellschaft das Einmalige, daß keine Diskussion stattfand. Paul Ehrlich sollte später in seinem Nachruf auf Robert Koch schreiben: „Jeder, der diesem Vortrag beigewohnt hatte, war ergriffen, und ich muß sagen, daß mir der Abend stets als mein größtes wissenschaftliches Erlebnis in Erinnerung geblieben ist.“

Noch am gleichen Abend verbreitete sich die Kunde durch Berlin und über Fernschreiber in die ganze Welt. Am nächsten Tag strömten die Ärzte zu den Kochschen Demonstrationen. Der Kreisphysikus aus Posen wurde weltberühmt.

Wilhelm I. verlieh ihm einen Kriegsorden 

1883 brach in Ägypten die Cholera aus. Die Angst vor ihr machte die Menschen kopflos, denn keiner konnte sich ihrer erwehren. Koch hatte sich schon lange mit der Cholera beschäftigt, und der schauerliche Anblick der Kranken hatte ihn erschüttert. Koch wurde zum Leiter der deutschen Cholera-Expedition für Ägypten berufen. Er fand in den Darmwänden der Toten kommaförmige Bazillen, Gebilde, die er schon gesehen hatte. Aber noch fehlten die Beweise. Koch ging nach Indien und forschte wie besessen – sogar am Heiligen Abend. Er scheute sich nicht, in den Armenvierteln Kalkuttas in den Hütten herumzukriechen. Schließlich gelang es dem Arzt, die verschlungenen Wege und Hinterhalte der Cholera aufzudecken und so eine wirksame Bekämpfung vorzubereiten.

In Berlin wurde er wie ein siegreicher Feldherr empfangen. Er mußte Kaiser Wilhelm I. Bericht erstatten und erhielt aus seiner Hand den Kronenorden am schwarzweißen Bande. „Mit dem Stern“, wie Bismarck auf der Verleihungsurkunde hinzugefügt hatte. Diesen Kriegsorden trug Koch am liebsten. Denn tatsächlich hatte er gegen die Cholera eine große Schlacht geschlagen.

Deutschland war die Apotheke der Welt

Koch hatte berühmte Schüler. Sein Assistent Georg Theodor Augustus Gaffky fand den Typhus-Bazillus, ein anderer, Friedrich August Löffler, den Diphtherie-Bazillus. Paul Ehrlich entdeckte das Salvarsan zur Behandlung der Syphilis, und Emil von Behring, einer seiner genialsten Schüler, wurde durch seinen Kampf gegen die Diphtherie weltbekannt und unsterblich. Man bezeichnete ihn als „Retter der Kinder“.

Mit Koch, Behring, Ehrlich (alle drei Nobelpreisträger) begann eine Epoche der Spitzenforschung in Deutschland. Wenige Jahre später sollten Einstein (Relativitätstheorie) und Planck (Quantentheorie) folgen. Deutschland war nicht nur, was die Industrialisierung betraf, zur Werkbank der Welt geworden, sondern auf medizinischem Sektor zur Apotheke der Welt. Auf internationalen Kongressen sprachen die Wissenschaftler Deutsch, es regnete Nobelpreise (von 1900 bis 1933 ging fast jede vierte dieser Auszeichnung in den Sparten Physik, Chemie und Medizin an deutsche Forscher). Der britische Wissenschaftshistoriker Peter Watson konstatierte neidlos: Es war eine glanzvolle Epoche, die von der „Vorherrschaft des deutschen Geistes“ geprägt war.

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