© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Eine Koalition der Widerwilligen
Großbritannien: Trotz der schnellen Regierungsbildung muß Cameron mit Widerstand der Tory-Basis rechnen
Derek Tuner

Eine Woche nach der Unterhauswahl einigte sich die Konservative Partei mit den Liberaldemokraten auf die Bildung einer Koalition unter Tory-Führer David Cameron – die erste britische Mehrparteienregierung seit 65 Jahren und somit Neuland für Akteure wie Zuschauer des Polittheaters.

Die wichtigsten Ministerämter gingen an die Tories als Seniorpartner. Vizepremier Nick Clegg konnte für seine LibDems immerhin fünf von 24 Kabinettsposten herausschlagen, 15 weitere sollen zu Juniorministern ernannt werden, was in etwa dem Rang eines Parlamentarischen Staatssekretärs in der Bundesregierung entspricht. Alle Minister müssen sämtlichen Kabinettsbeschlüsse unterstützen, allerdings haben LibDem-Abgeordnete das Recht, sich bei Abstimmungen im Unterhaus zu bestimmten kontroversen Themen wie der Atomenergie zu enthalten.

Viel wird von dem Arbeitsverhältnis zwischen Cameron und Clegg abhängen. Beide sind 43 Jahre alt, stammen aus relativ privilegierten Verhältnissen und sind sich in vielen Fragen einig. Dasselbe gilt aber nicht unbedingt für ihre Parteifreunde: Viele LibDems stehen ideologisch eher der Labour-Partei nahe, während viele Tories Labour sogar für das geringere Übel halten. Die neue Koalition „bringt die großzügigsten Geldausgeber und die geizigsten Sparer Großbritanniens, seine inbrünstigsten EU-Befürworter und EU-Kritiker, seine stärksten Verfechter und Kritiker staatlicher Macht, seine feurigsten Neocons und Liberalen zusammen. Wenn sie fünf Jahre hält, wird künftig auch Wasser bergauf fließen“, ätzte der Labour-Politiker Lord Adonis im Guardian.

Cameron hat zudem mit parteiinternen Kritikern zu kämpfen. Viele verachten das „Konservatismus-Imitat“, das er und seinesgleichen als „multiethnische, omnisexuelle Tories“ verkörperten. Cameron ist eine Koalition eingegangen, ohne vorher die Zustimmung der Parteibasis einzuholen. Wichtige Posten wie das Europa-Portfolio und das Innenministerium gehen an „Modernisierer“ wie David Lidington und Theresa May, mit Francis Maude wird ein weiterer Parteilinker Minister für das Kabinettamt. Die „Gleichheitsministerin“ der LibDems hat ihren neuen Kollegen vorgeworfen hat, „zu männlich und zu weiß“ zu sein. Als erste Muslima in einem britischen Kabinett wird die pakistanischstämmige Baroneß Sayeeda Warsi auch den geschäftsführenden Tory-Parteivorsitz übernehmen.

Zu den ersten Regierungsbeschlüssen zählte die Ankündigung, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Legislaturperiode künftig auf fünf Jahre festlegt und die Bedingungen für einen Sturz der amtierenden Regierung durch ein Mißtrauensvotum verschärft. Gegenwärtig bedarf es dafür nur einer Mehrheit von einer einzigen Stimme; künftig sollen mindestens 55 Prozent aller Abgeordneten zustimmen müssen. Dies sei notwendig, um für stabile Verhältnisse zu sorgen, wird behauptet, doch viele Parlamentarier halten die Vorschläge für verfassungswidrig und undemokratisch.

Im Gegenzug sichern die Liberaldemokraten den Tories Unterstützung für geplante Ausgabenkürzungen in Höhe von sechs Milliarden Pfund in den ersten zwölf Monaten ihrer Regierungszeit zu. Auch die unter Labour-Premier Gordon Brown anvisierte Aufstockung des Budgets für das Gesundheitswesen ist bereits dem Rotstift zum Opfer gefallen. In der Frage einer allgemeinen Amnestie für illegale Einwanderer und ihrer Ablehnung des Trident-Atomprogramms zeigten sich die LibDems ebenfalls kompromißbereit und nahmen Abstand von ihren Wahlkampfversprechen. Zudem stimmten sie zu, ohne vorherige Volksabstimmung keine weiteren Befugnisse an Brüssel abzutreten und zumindest in der kommenden Legislaturperiode von einem Beitritt zum Euro abzusehen.

Ausgabenkürzungen sollen Steuererhöhungen vermeiden. Für das Finanzjahr 2010/2011 wird ein Defizit von 163 Milliarden Pfund erwartet, das sind zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und fast „griechische Verhältnisse“. Neben Steuererleichterungen für Geringverdiener will man zusätzliche Mittel für Schulen bereitstellen, Reformen im Bankwesen einleiten, die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern begrenzen und neue Atomkraftwerke bauen.

Die Tories wollen auch die von den LibDems geforderte Volksabstimmung über die Abschaffung des Mehrheitswahlrechts zulassen. Sollte es dazu kommen, würden die Konservativen in England auf absehbare Zeit ebenso an der Macht bleiben wie Labour in Schottland. Dafür würden aber mehr LibDems und schottische, walisische und irische Nationalisten ins Unterhaus einziehen. Auch die EU-kritische UKIP und die rechte BNP sowie Grüne und linke Kleinparteien, aber auch Parteien ethnischer Minderheiten hätten dann gute Aussichten auf Sitze in Westminster.

Ein solches Wahlverfahren ist mit Sicherheit demokratischer, allerdings befürchten manche, es könnte das Ende des „starken Staats“ bedeuten. Ob das Großbritannien eher nützen oder schaden würde, ist eine andere Frage.

 

Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

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