© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Die Verklärung eines Ungeheuers
Stalin wird in Rußland wieder salonfähig / Erster Teil der JF-Serie über einen der größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts
Andrzej Madela

Im Anfang stand der Krieg, und die  frühsowjetische Gesellschaft ist sein rechtmäßiges Kind. Er ist es, der ihre aufflackernde Mobilität gewährleistet. Seine Dauer garantiert eine erbarmungslose, schubweise verlaufende Sozialumwälzung. Der erste Schub hält etwa fünf Jahre. Er wird  symbolisch begrenzt vom Mord an der Zarenfamilie 1918 und dem Niedergang der KPD-Revolte in Deutschland 1923. In dieser Zeitsenke liegt eine eruptiv beginnende Aufwärtsmobilisierung der Massen, in deren Verlauf die ohnehin dünne Schicht russischer Aristokratie und Bourgeoisie nahezu vollständig aufgerieben wird.

Aus der Konkursmasse des zerschlagenen Zarenreiches formt dieser Schub noch 1918 eine 370.000 Mann starke Armee (1920 sind es schon 5,4 Millionen), gestaltet einen schlagkräftigen militärisch-industriellen Komplex  und verleiht der ausgelaugten Industrie wieder Auftrieb und Struktur – die Landwirtschaft hat dabei das Nachsehen. Er schafft eine erste Nomenklatura in Partei, Staat und Gesellschaft und ist der Urheber einer tausendfachen Neubesetzung einflußreicher Stellen in Verwaltung, Wirtschaft und Justiz. Dem gründlichen Austausch des politischen Personals läßt er einen nicht minder radikalen Umbau der Hochschul-, Bildungs- und Kulturlandschaft folgen, der seinerseits mit einer vielfachen Brechung bisheriger Bildungsprivilegien einhergeht.

Zur Modernisierung im Bürgerkrieg gehören aber auch Verbannungen, erste Konzentrationslager und die klassenbezogene Vernichtung wirklicher und imaginärer Feinde. Der Kriegskommunismus etabliert einen Staat, der sich den Terror nicht als sein allerletztes Rettungsmittel denkt, sondern als immanente Norm gesellschaftlicher Erneuerung. In seiner Perspektive ist gesellschaftlicher Fortschritt ohne physischen Terror nicht zu haben. So fordert denn auch die terroristische Modernisierung 1918–1923 insgesamt zehn Millionen Opfer – das Vierfache jenes Blutzolls, den das zaristische Rußland im Ersten Weltkrieg zu entrichten hatte.

Allerdings erleidet sie bereits im August 1920 einen ersten Rückschlag, als die Polen Tuchatschewskis Armee bei Warschau besiegen. Im Gegenzug verschafft zwar der rote Sieg im Bürgerkrieg (1922) einen erneuten kurzzeitigen Auftrieb. Bald jedoch wendet sich das Blatt von neuem. Dem mißglückten ersten Versuch, über den Anschluß an das revoltierende Deutschland ganz West­europa mit Revolutionsarmeen zu  überfluten, folgt 1923 ein endgültiges Desaster, als die überforderte deutsche Revolution kläglich scheitert und so ungewollt zum Totengräber frühsowjetischen Expansionswillens wird.

Auf diesen ersten Schub folgen 1924–1930 die Jahre des Stillstands. Dadurch nimmt der Nachkriegskommunismus nur unvollkommen Gestalt an. Zwar hat er die innerrussische Opposition von der politischen Landkarte getilgt, sein  wichtigstes Ziel aber – die Sowjetisierung Europas – verfehlt und eine festgefahrene Modernisierung hinterlassen. Deren sichtbarer Ausdruck ist ein politisch-wirtschaftliches Zwittergebilde, das unter dem Namen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) bald Eingang in die Geschichtsbücher findet. Vor diesem Hintergrund aus stockender Aufwärtsbewegung und erzwungener Friedenspflicht, populistischem Maximalismus und angehaltener Radikalität, kleinkapitalistischem Markt und politischem  Parteimonopol vollzieht sich zwischen 1923 und 1934 Stalins Aufstieg.

Von dem Zwitterhaft-Unfertigen wird auch die Partei nicht verschont, der er seit 1922 vorsteht. Noch unmittelbar vor der Revolution war sie eine klassische Kaderschmiede. Ihre damaligen 23.000 Mitglieder, darunter ein Drittel mit Hochschulreife bzw. akademischem Abschluß, überproportional oft gepaart mit jüdischer  Herkunft, blieben in der Illegalität eine handverlesene, geradezu elitäre Organisation mit militärischer Struktur und autoritärer Leitung. Hohe Mobilität, straffe Führung, erhebliches Bildungsniveau und ein Selbstverständnis, das das Revolutionärsein als erlernten und  ausgeübten Beruf begreift, verleihen der kleinen Partei im Zarenreich einen uneinholbaren Vorsprung vor der verzagten Konkurrenz von biederen bürgerlichen Honoratioren.

Gerade unter Stalin verliert sie allerdings ihren elitären Charakter unwiederbringlich. Ihre Kriegsbeute 1922 ist ein neuer Staat gewaltigen Ausmaßes, dessen schiere Größe allein die Existenz einer Massenpartei erfordert. Da zählt sie bereits 410.000 Mitglieder, 1926 sind es schon 640.000. 1930 knackt sie die Millionengrenze, 1933 steigt ihre Mitgliederzahl auf 2,2 Millionen. Doch das Zwitterhafte lauert auch hier. Die neuen Massen verjüngen sie zwar, brechen jedoch den Intellektuellenzirkel auf und erweitern ihn zu einer Volkspartei der Ungebildeten. Mit dem Wegfall ursprünglicher Qualitätskriterien und dem Schwund des nun obsolet gewordenen berufsrevolutionären Selbstverständnisses gewinnt sie an nationaler Verwurzelung und büßt gleichzeitig ihre  treibende Energie ein.

So wird der einstige Modernisierungsantreiber immer mehr zu einem selbstzufriedenen Kontrollorgan. In ihrer Verfassung ist die Partei 1930 denn auch eher Hemmnis als Motor der Modernisierung, ihre radikale Umkrempelung aus Stalins Sicht geradezu ein Gebot der Stunde. Daß dies bis Ende 1934 nicht wirksam wird, macht er an der mächtigen Stellung der „alten Bolschewiki“ fest, von denen er sich im Politbüro umzingelt und in denen er das Haupthindernis einer zweiten Modernisierung zu erkennen glaubt. Das hat vor allem strukturelle Gründe: Von 1930 bis in die Mitte der dreißiger Jahre regiert in der Sowjetunion eine Parteioligarchie, deren  Oberhaupt natürlich der Generalsekretär selbst bleibt, die sich jedoch genauso wie er aus der höchst prestigeträchtigen Garde der alten Bolschewiki rekrutiert und über eigene Rückendeckung in den  Basisorganisationen verfügt.

Im Gegensatz zur jüngeren Funktionärsschicht verdankt sie ihren Aufstieg nicht einer Beförderung durch den  Generalsekretär, sondern eigenen Fähigkeiten und Verdiensten aus der Zeit vor 1917. Sie unterstützt Stalin dort, wo er sich als Mann der gemäßigten Mitte präsentiert, der die politischen Extreme des revolutionären Kriegschaos (Sinowjew, Kamenjew, Trotzki) und kleinkapitalistischer NEP-Dominanz (Bucharin, Tomski, Rykow) meidet. Sie folgt ihm auch, wenn er zur zweiten Modernisierung aufruft, die in Wirklichkeit eine radikale Abwicklung der NEP bedeutet. Weil sich aber ihr Aufstieg parallel zu  dem Stalins – und nicht durch ihn – vollzieht, besteht sie keineswegs aus seinen Marionetten. Und sie verfolgt eigene Interessen.

Ihr populärster Protagonist ist der neue Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow, ihr wichtigster Wirtschaftsexponent hingegen Sergio Ordshonikidse, seines Zeichens Volkskommissar für Schwerindustrie und dank der Schlüsselstellung  seines Ministeriums de facto oberster Wirtschaftsführer der Sowjetregierung. Dazu gehören auch Walerian Kujbyschew, Chef der Staatlichen Plankommission, ferner Jan Rudsutak, Minister für chemische Industrie (und zeitweise Vorsitzender der Parteikontrollkommission), nicht zuletzt auch der KP-Generalsekretär der Ukraine, Stanislaw Kossior. Dank ihrer eigenständigen Position baut die Oligarchie (allen voran Ordshonikidse  und Kujbyschew) eigene Machtapparate auf, mit denen Stalin rechnen muß.

Der Startschuß zur zweiten Modernisierung erfolgt letztlich 1930. Angesichts des jüngst radikal umgestalteten Politbüros muß sie Stalin mit zahlreichen Kompromissen erkaufen. Ihr ehrgeiziges Ziel ist der erneute Anschluß an Westeuropa, diesmal allerdings nicht über „Befreiungsmärsche“ von Revolutionsarmeen, sondern über eine in der Welt noch nie dagewesene Industrialisierung, in der  die Schlüsselrolle der Schwerindustrie zufällt. Sie wird seitdem bis ans Ende der Sowjetunion in Form von Fünfjahresplänen organisiert. Die Priorität der Schwerindustrie und die Planungspflicht des Staates stärken dabei die Position der technisch-industriellen Oligarchie erheblich.

Die kostspieligen Investitionen, von denen ein Großteil in der Rüstungsindustrie und deren benachbarten  Sparten landet, ziehen eine gigantische Aufrüstung nach sich. Der Friedensstärke der Roten Armee von 700.000 Mann im Jahre 1929 folgt schon 1931 eine Truppe, die über eine Million Soldaten  zählt. Bis 1936 werden knapp 15.000 leichte und mittlere Panzer gebaut, offensiv ausgerichtete Luftlandetruppen aufgestellt, Radaranlagen und große Militärflugzeuge bestellt. Die Kriegsflotte steigert in den dreißiger Jahren ihr Potential um ein Vierfaches, die Luftstreitkräfte um ein Sechsfaches.

Ebenfalls um ein Sechsfaches steigt das Produktionspotential eines ganz besonderen Industriezweiges: des Gulags. Zählt dieser Ende der zwanziger Jahre etwa 800.000 Insassen, sind es schon zwei Jahre später zwei Millionen, 1933/35 bereits fünf Millionen, 1936 sechs Millionen, 1938/1939 schließlich acht Millionen Häftlinge in der mörderischen Welt des Gulags.

Fortsetzung in der nächsten JF

 

STALINS Schreckensregime (1)

Der sowjetische Totalitarismus unter Stalin forderte Millionen Opfer und wurde bis heute nur unzureichend aufgearbeitet. Um einer Verklärung – nicht nur im Rußland Putins – entgegenzuwirken, startet die JF in dieser Ausgabe eine mehrteilige Serie über dieses Schreckensregime.

Foto: Zu den alljährlichen Feiern zum 9. Mai wird Stalin von vielen Russen als Sieger des Großen Vaterländischen Krieges und als Diktator des mächtigen Sowjetreiches vereht, Demonstranten im Jahr 2009: Terror als immanente Norm gesellschaftlicher Erneuerung

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