© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

„Wir, die Griechen von morgen“
Oswald Metzger über den Wahlausgang in NRW, die Euro-Krise und sein Buch „Die verlogene Gesellschaft“
Moritz Schwarz

Herr Metzger, Ihre ehemalige Partei, die Grünen, ist Wahlsieger in NRW und wird inzwischen von allen Seiten hofiert. Sind Sie 2008 aus der falschen Partei ausgetreten?

Metzger: Nein, das war schon eine Überzeugungstat. Aber ich stelle fest, daß die Grünen offenbar werden, was die FDP einmal war, nämlich der Joker der deutschen Politik, das Objekt der Begierde – auch für die CDU.

Ihre heutige Partei, die CDU, hat am Sonntag eine historische Niederlage erlitten, bundesweit ist sie schon seit Jahren in der Krise. Sind Sie in die falsche Partei eingetreten? 

Metzger: Noch einmal nein, ich bin ja nicht eingetreten, weil ich auf Wahlsiege spekuliert habe, sondern weil ich glaube, daß ich als Unionspolitiker bestimmte Wählerschichten erreichen kann, in einer Gesellschaft, die viel unideologischer geworden ist: Ich glaube, ich verkörpere mit meiner nicht stromlinienförmigen politischen Biographie eine gewisse Authentizität, die der Union guttäte. Denn die Union muß sich wirklich einmal Gedanken machen über die Gründe des strukturellen Schwindens ihrer Wählerbasis.

Und die wären?

Metzger: Zum Beispiel eben, daß sie ihren marktwirtschaftlichen Markenkern nicht mehr glaubhaft vertritt.

Bereits vor der NRW-Wahl war klar: Wird Schwarz-Gelb dort abgewählt, ist es mit dem im Herbst in Berlin begonnenen schwarz-gelben Projekt auch schon wieder vorbei.

Metzger: Die Frage ist, hat es denn schon begonnen? Ich habe bereits während der Koalitonsverhandlungen in Berlin kritisiert, daß es ein Riesenfehler ist, wenn die Bundesregierung ein halbes Jahr konkrete Reformpolitik wie der Teufel das Weihwasser meidet, um die NRW-Wähler nicht zu verschrecken. Diese „Vertagungspolitik“ der schwarz-gelben Regierung ist im Kern der Grund für die Niederlage: So mobilisiert man keine Wähler. Die bestürzend niedrige Wahlbeteiligung – nur 59 Prozent – ist auch dafür ein klares Zeugnis.

Wenn man schon bisher nicht den Mut zum Regieren gefunden hat, was ist denn dann nun überhaupt noch zu erwarten?

Metzger: Ich bin sehr gespannt, wie man jetzt in Berlin reagieren wird. Aber Sie haben den inzwischen wohl wichtigsten Faktor nicht genannt: Wie entwickelt sich die Euro-Krise? Ausgerechnet am NRW-Wahlsonntag wurde ja die Axt an den EU-Stabilitätspakt gelegt, wird womöglich die Unabhängigkeit der EZB auf dem Altar einer europäischen Haftungsunion geopfert. Da wird mir als Finanzpolitiker, der sich über die katastrophale Verschuldung in vielen europäischen Staaten keine Illusionen macht, mehr als mulmig. Jetzt werden die nächsten Hunderte von Milliarden Euro in den Kampf gegen die Märkte investiert. Damit verabschiedet man sich von einer seriösen Konsolidierung und macht den Euro zur Weichwährung.

Wenn auch Schwarz-Gelb keine Reformpolitik wagt, ist das Spektrum der etablierten Parteien in dieser Hinsicht ausgereizt. „Was nun?“, fragt sich der bürgerliche Wähler, denn es gibt keine Partei, die er noch wählen kann.

Metzger: Das stimmt, damit gibt es für diese Wähler derzeit gar keine Wahloption mehr. Ich kann da aber nur für meine Person antworten: Ich werde trotz allem für eine vernünftige Politik innerhalb der Union weiterkämpfen, vor allem in der CDU-Mittelstandsvereinigung. Ich werde in Baden-Württemberg für das Amt des Vize-Landesvorsitzenden der MIT kandidieren. Ich will dafür werben, daß sich der wertkonservative, ordoliberale Mittelstand nicht aus der Parteipolitik zurückzieht, sondern dort reformerischen Einfluß zu nehmen versucht.

Zweifellos wünschen sich viele Wähler eine Alternative: Wäre eine Friedrich Merz/Oswald Metzger-Reformpartei vorstellbar?

Metzger: Ich halte einen solchen Versuch für reine Ressourcen-Vergeudung: Bis man in 16 Ländern funktionierende Verbände aufgebaut und sich die personelle Spreu vom Weizen trennt, weil in eine neue Partei anfangs immer viele Frustrierte und Exoten drängen, braucht man zuviel Zeit und Kraft. Da ist es rationaler, trotz aller Mühseligkeiten, in den etablierten Parteien mitzuarbeiten.

Im Februar hat die Kanzlerin den Unmut in der Union und die Kritik an ihr nur mühsam wieder unter Kontrolle bringen können. Bricht nun der Aufstand gegen sie erneut aus?

Metzger: Union wie FDP ist inzwischen deutlich erkennbar die Orientierung verloren gegangen. Wir brauchen dringend politische Führung in diesem Land, aber ich bin da inzwischen mehr als skeptisch. Es gibt ganz klar drei Verlierer der Wahl: Jürgen Rüttgers, Guido Westerwelle – und Angela Merkel.

Die FDP galt im Herbst als Motor der Reformen, nun geht sie in die Opposition. Wollen die Bürger gar keine Reformen?

Metzger: Na ja, im NRW-Wahlkampf hat sie ja gar nicht mehr für Reformen geworben, sondern eher für eine Durchwurstel-Politik. Und wenn man die Beliebigkeit zum Maßstab des eigenen Handels macht, dann braucht man sich nicht wundern, wenn beliebige Ergebnisse herauskommen. Sie haben aber gefragt, ob das Volk denn überhaupt bereit wäre, eine wirkliche Reformpolitik zu unterstützen? Da muß man sich allerdings dessen Wankelmütigkeit auch einmal ins Gedächtnis rufen: 2005 schlug das Pendel bei fast allen Parteien stark in Richtung Reform aus, aber die Wähler bestraften diese Entschlossenheit. Daraus hat das Establishment gelernt, dem Volk besser nach dem Munde zu reden. Dann kamen 2008 die staatlichen Ausgabenexzesse wegen der Bankenkrise, bis sich 2009 langsam herumgesprochen hat, daß wir uns das gar nicht leisten können und die Wähler im Herbst für das Reformversprechen von Schwarz-Gelb stimmten. Ihre Frage ist also nicht unberechtigt.

Ihr Buch „Die verlogene Gesellschaft“ zeigt, daß opportunistische Politiker ein Produkt unkritischer Anspruchshaltung und eben jener Wankelmütigkeit des Volkes sind. Ist in Wahrheit also das Volk an allem schuld?

Metzger: Nein, das wäre zu einfach. Aber es stimmt, ganze Generationen von deutschen Politikern haben die Lektion gelernt: Das Volk belohnt Wohltaten, selbst wenn wir sie uns nicht leisten können und bestraft Einschnitte, auch wenn sie der einzige Weg sind, verantwortungsbewußte Politik zu machen. Denken Sie an das klassische Beispiel Bundestagswahl 1990: Kanzlerkandidat Lafontaine sagte damals offen, die Wiedervereinigung sei nicht aus der Portokasse zu bezahlen, sondern bringe Wohlstandsverluste und Steuer­erhöhungen in Westdeutschland. Helmut Kohl dagegen versprach blindlings „blühende Landschaften“. Lafontaine behielt recht, gewählt wurde aber Kohl. Lafontaine hat seine Lektion gelernt – und ist nun der billige Jakob der Politik. Denn heute ist es nicht anders: 2005 etwa ging der fast sicher geglaubte Bundestagswahlsieg der Union beinahe verloren. Warum? Weil sie den Mut und die Ehrlichkeit hatte, zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung ausgerechnet in ihrem Wahlprogramm anzukündigen, um so die Arbeitskosten zu senken. Am Ende langte es gerade mal noch für die ungeliebte Große Koalition. Der Wähler schimpft gerne über illusorische oder gebrochene Wahlversprechen, tatsächlich aber gibt es eine unheilige Wechselwirkung zwischen den sozialen Forderungen der Bevölkerung und den Wahlversprechen der Politiker. Fazit der Politik: Alles rosa malen, statt die Wahrheit zu sagen, sonst werden wir bestraft!

Sind wir also nicht besser als die Griechen?

Metzger: Griechenland sollte uns eine Warnung sein. Dort kann man sehen, was passiert, wenn man vor der Wahrheit zu lange die Augen verschließt: Am Ende muß man feststellen, daß man sich jahrzehntelang selbst ausgetrickst hat und bekommt die Quittung.  

Wie „verlogen“ ist unsere Gesellschaft?

Metzger: Ich liste in meinem Buch zahlreiche Beispiele auf, etwa: Als ich privat eine Putzhilfe suchte, meldeten sich etliche Bewerberinnen, nahmen aber Abstand, als sie erfuhren, daß ich sie anmelden wolle, denn sie hatten alle schon einen anderen 400-Euro-Job. Als ich das im Freundeskreis erzählte, erntete ich zu meinem Verdruß dort obendrein nur Unverständnis. Motto: „Machs doch schwarz!“ oder „Selbst schuld“. Das ist ein Beispiel für die ganz alltägliche Doppelmoral. Denn wenn ein Politiker eine Putzhilfe schwarz beschäftigt, gibt es schnell Rücktrittsforderungen, während unter den Bürgern Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung fast schon Volkssport sind. Über einen Klaus Zumwinkel können wir uns hell empören, aber uns selbst ist das Gemeinwohl genauso piepegal. Jeder weiß, daß etwa zehn Prozent der Kfz-Versicherungsmeldungen fingiert sind, im Bereich Hausrat liegt die Quote gar bei etwa vierzig Prozent. Jeder ärgert sich über die hohen Policen – und jeder betrügt. Wir schimpfen auf die Banker wegen der Wirtschaftskrise im vorletzten Jahr, aber wir selbst setzen die seriösen Finanzdienstleister unter Druck, weil allzu viele leichtgläubige oder gierige Verbraucher lieber zu den Unseriösen laufen.

Sie schreiben, an der „Ladentheke zu bezahlen“ finden wir normal, beim Staat aber „bestellen wir wie selbstverständlich immer mehr Leistungen“ und empören uns, wenn es was kostet.  

Metzger: Im Laufe der Zeit haben wir offenbar vergessen, daß die Leistungsfähigkeit des Staates auch von uns abhängt: Wenn wir den Staat überfordern, dann verlangt er uns im Gegenzug immer mehr ab – in Form von Steuern und Abgaben, aber auch in Gestalt einer immer größeren Regelungswut. Über Jahrzehnte haben wir uns der Vollkasko-Illusion hingegeben. Was mich dabei irritiert, ist nicht nur der Umstand, daß wir das tun, sondern auch mit welcher Kritiklosigkeit: Wie kann man darüber lamentieren, immer weniger Netto vom Brutto zu haben, wenn man gleichzeitig immer mehr aus der öffentlichen Hand haben will? Was geht da in den Köpfen vor? Dennoch singt diese Arie der Wähler aller Parteien, da gibt es fast keine Ausnahmen. Vor der Bundestagswahl im letzten Herbst wurden potentielle FDP-Wähler gefragt, ob sie das Steuersenkungsversprechen der Liberalen glauben. Mit großer Mehrheit haben die meisten FDP-geneigten Wähler immerhin gesagt, nein, sie glaubten nicht, daß der Staat wegen der gigantischen Verschuldung den Spielraum dafür habe. Und dennoch hat die FDP mit diesem Versprechen ein historisches Wahlergebnis erzielt! So was ist doch grotesk und wirft ein Schlaglicht auf die Verlogenheit und den Selbstbetrug in unserer Gesellschaft.

Die Medien, kritisieren Sie, hinterfragen das nicht, sondern beteiligen sich am Treiben von Volk und Politikern. Zum Symbol für diese Kollaboration der Vierten Gewalt machen Sie das „weiße Sofa“ aus der Sendung „Anne Will“.

Metzger: Die Kollaboration besteht in der Tat darin, daß die Medien nicht aufklären, sondern die Situation nur noch dramaturgisch aufbereiten: Redaktionen laden Betroffene ein, die bei „Anne Will“ auf einem weißen Sofa Platz nehmen, damit sie ihr Leid klagen. So weit so gut, aber das Problem ist, daß Politiker und Journalisten nicht kritisch hinterfragen, ob die Klagenden denn auch tatsächlich recht haben oder nicht vielleicht Lobbying in eigener Sache betreiben? Doch statt dessen gilt: Der Betroffene hat immer recht! Dabei geht es diesen Leuten oft genug vor allem um ihr eigenes Wohl und keineswegs um das der Allgemeinheit. Das ist Gutmenschentum und eine Art von Political Correctness, hat also in der Regel nichts mehr mit der Darstellung der komplexen Realität zu tun. Betroffenheits-TV statt Aufklärung, um der Quote willen, oder „Infotainment“, wie es der bekannte US-Medienwissenschaftler Neil Postman nannte, also die Verwandlung des rationalen öffentlichen Diskurses in emotionalisierte Unterhaltung.

Waren es aber nicht die Grünen, die mit ihrem Gutmenschentum und der Emotionalisierung der Politik mittels Betroffenheitskult wesentlich zu der von Ihnen beklagten Kultur beigetragen haben? Eine Partei, der Sie bis vor kurzem, zwanzig Jahre lang, angehört haben.

Metzger: Das stelle ich nicht in Abrede, wenn ich an die Gutgläubigkeit vieler ehemaliger Parteifreunde in Fragen der Integration, der Multikulturalität, erinnere, die in den achtziger Jahren sogar das „verordnete“ Erlernen der deutschen Sprache diskreditierten. Doch auf diesem Feld sind die Grünen inzwischen auch vernünftiger geworden. Dagegen dominiert nach wie vor die sozialpolitische Fehleinschätzung, Unterhaltsansprüche innerhalb der Familie aufzugeben und stattdessen Individualansprüche an den Staat zu formulieren. Das führt zu systematischen Fehlanreizen und Mitnahmeeffekten, und es höhlt die Keimzelle des Staates, die Familie, als Verantwortungsgemeinschaft aus.

Könnte man das, was Sie fordern, nicht als „konservative“, „preußische“ oder „rechte“ Tugenden bezeichnen? Hat die Rechte also nach Ihrer Ansicht doch eine politische Berechtigung?

Metzger: Ich habe mit diesen klassischen konservativen Tugenden noch nie Probleme gehabt. Ich glaube auch nicht, daß die politische Rechte darauf ein Monopol hat. Gott sei Dank gibt es wertefundierte Persönlichkeiten in allen gesellschaftspolitischen Milieus. Die politische Rechte gehört auch in Deutschland in das demokratische Spektrum, wenn sie auf rassistische Ressentiments und Minderheitenhetze verzichtet.

Was aber, wenn wir weiterhin die „verlogene Gesellschaft“ bleiben, die wir bis heute sind?

Metzger: Was dann passiert, erleben wir ja gerade in Griechenland. Das Land ist bankrott und wird auch mit der europäischen Hilfsaktion nach meiner Meinung nicht auf die Füße kommen. Ein Land, das schon heute ein Fünftel seiner Steuereinnahmen für Zinsen ausgeben muß, wird durch die vermeintliche Stützungsaktion in eine jahrelange Depression geraten. Ein Austritt aus der Eurozone, Umschuldungsverhandlungen mit den Gläubigern und ein Währungsschnitt würden den Griechen eher wieder eine Chance geben. Doch die Griechen und die Europäer haben einen anderen Weg gewählt, und die Bevölkerung wird – trotz der ersten Toten – in Teilen weiter gegen die massiven Einschnitte in Besitzstände rebellieren. Wenn wir es nicht schaffen, eine breite Grundsatzdebatte über die soziale Erwartungshaltung unserer Bevölkerung zu beginnen, dann wird Deutschland das Griechenland von morgen sein. Dann werden wir eines Tages feststellen, daß auch die stärkste Volkswirtschaft Europas nicht mehr in der Lage sein wird, die wirtschaftlichen Wachstumsraten zu erzielen, um den Zinseszins für unsere extrem aufgehäuften Schulden zu bezahlen und die massiv steigenden Renten-, Pensions- und Gesundheitskosten unseres alternden Landes zu schultern: Athen grüßt Berlin!

 

Oswald Metzger galt als der „ordoliberale Grüne“ (Metzger über Metzger) lange als eine der schillerndsten Persönlichkeiten in den Reihen der Grünen. Bis der ehemalige Bundes- und Stuttgarter Landtagsabgeordnete Ende 2007, nach zwanzig Jahren, seine Partei „kopfschüttelnd“ über deren sozialpolitischen „Illusionismus“ verließ, der dem Wähler „ein unbezahlbares Füllhorn – egal ob Grundsicherung oder sündhaft teures Grundeinkommen – von (sozialen) Leistungen verspricht“. Der oberschwäbische Politiker und Publizist ( www.oswald-metzger.de ), geboren 1954 in der Schweiz, ist heute Mitglied der CDU.

Sein jüngstes Buch „Die verlogene Gesellschaft“ (Rowohlt 2009) beschreibt mit „analytischer Schärfe und großer Detailkenntnis“ (SZ), wie die Deutschen – Volk, Politik und Medien – gelernt haben, sich in sozialpolitischer Hinsicht  „jahrzehntelang selbst auszutricksen“, und nun dem Ruin ihres Gemeinwesens entgegensehen.

 

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