© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Kolumne
Keine Einsicht in die Notwendigkeit
Klaus Motschmann

Die geistigen und politischen Auseinandersetzungen werden in zunehmendem Maße mit Argumenten geführt, die sich selber ad absurdum führen und damit jeder sachlichen Erörterung entziehen. Aktuelle Belege für diese Feststellung liefert die Kampagne gegen das Projekt „Vera“ (Vergleichsarbeiten) nach dem dritten Schuljahr. In Berlin hatten zirka 1.000 Lehrer, darunter mehrere Schulleiter, mit einem Boykott gedroht, weil die Schüler mit „Migrationshintergrund“ und aus „bildungsfernen Schichten“ die Fragen angeblich nicht verstehen und demzufolge auch nicht beantworten können.

Wie immer man diese Aktion und ihre Ergebnisse auch beurteilen mag: sie wirft ein grelles Schlaglicht auf das Desaster einer jahrzehntelangen „Spaßpädagogik“ und damit zusammenhängenden Integrations-Illusionen. Sie bestätigen die Klagen der Industrie- und Handelskammer sowie großer Ausbildungsfirmen, die viele Lehrstellen nicht besetzen können, weil geeignete Bewerber fehlen. Ein Ende dieser Bildungsmisere ist nach menschlichem Ermessen nicht in Sicht, weil von der „Einsicht in die Notwendigkeit“ eines radikalen Sinneswandels bei den Verantwortlichen für diese Entwicklung noch immer nichts zu bemerken ist. Einstweilen fällt ihnen – von einigen Ausnahmen abgesehen – nichts anderes zur Lösung dieses wie anderer Probleme ein als die Forderung nach mehr Geld und mehr Sozialarbeitern. Dabei wird übersehen, daß der „Vergleich“ eine unabdingbare Voraussetzung für verantwortungsbewußte Entscheidungen in allen Bereichen des menschlichen Lebens ist. In Wissenschaft und Politik, Publizistik und Technik, Wirtschaft und Sport bietet der Vergleich zuverlässige Orientierung und Information. In weiten Bereichen der Gesellschaft sind für bestimmte Entscheidungen gründliche Vergleiche vorgeschrieben: so bei Stellenbesetzungen oder Bauvorhaben.

Bislang haben nur Vergleiche mit dem Nationalsozialismus gegen die neuen Sitten der Zivilgesellschaft verstoßen, nun offensichtlich auch Vergleiche mit den Hinterlassenschaften der vierzigjährigen Kulturrevolution. Tatsächlich lassen sich viele Vorgänge dieser Entwicklung nur noch ideologisch, aber nicht mehr logisch erklären. Dennoch spielen sie in der Diskussion um politische und gesellschaftliche Probleme noch immer eine Rolle.

Man fühlt sich an ein bekanntes Diktum des Kirchenvaters Tertullian erinnert: „Credo, quia adsurdum est.“ (Ich glaube, weil es absurd ist.)

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin.

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