© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Spengler, Schmitt und die deutsche Mission
Im Spiegel der Unwiderruflichkeit
von Gernot Hüttig

Wer die Weltgeschichte nicht als Bühne göttlicher oder menschlicher Willkür begreift, sondern als Prozeß vor dem Weltgericht, ist versucht, aus Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft zu schließen. Er gesellt sich damit jenen zu, die die Geschichte als erkennbaren Gesetzen gehorchend und deshalb als voraussehbar verstehen. Hieraus speist sich die wiedererwachte Faszination, die von dem Geschichtsphilosophen Oswald Spengler ausgeht. Wir, die wir den Zeitraum von fast einem Jahrhundert nach dem Erscheinen seines epochalen Werkes „Der Untergang des Abendlandes“ überblicken, sind anders als seine Zeitgenossen befugt, die Substanz seiner Vorhersagen anhand des Eingetretenen zu prüfen.

Die abendländische Kultur, so Spengler, münde wie jede andere Hochkultur in dem Zustand der endgültigen Erstarrung, die er „Zivilisation“ nennt. Deren Gestaltung sei die Aufgabe der Zeit. Zwei Modelle stünden sich gegenüber, das des englisch-amerikanischen Liberalismus und das des ethischen, weil einer Ordnungsidee verpflichteten Sozialismus, den er auch den preußischen nennt und von dem ausschließlich wirtschaftlichen, dem marxistischen Sozialismus abgrenzt, der ihm nur als Variante des Liberalismus erscheint. Die zu entscheidende Frage laute: „Soll in Zukunft der Handel den Staat oder der Staat den Handel regieren?“ Staat, Politik stehen dabei für den Menschen in der Gemeinschaft, Handel, Wirtschaft hingegen für die Gesellschaft von nur am eigenen Erfolg interessierten, atomisierten Individuen, die durch ihre Vereinzelung wehrlos und zur Beute des Stärksten werden.

Sorgfältig unterschied Spengler zwischen Liberalismus und Demokratie: „Es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts. (...) Wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigene (....). Das ist unsere Freiheit, Freiheit von der wirtschaftlichen Willkür des einzelnen.“

Die Politik in Gestalt des ethischen oder preußischen Sozialismus, davon war Spengler überzeugt, werde den Sieg über die Wirtschaft davontragen und der abendländischen Zivilisation die abschließende Form geben. Er beschrieb damit zutreffend die Frontstellung, die die Epoche von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägte. Die Vorhersage war im Ergebnis falsch. Deutschland, der von Spengler berufene („und zwar sehe ich in der Krönung des gewaltigen Gebäudes die eigentliche Mission der Deutschen als der letzten Nation des Abendlandes“) Träger jenes Sozialismus, scheiterte, und die Träger des Liberalismus triumphierten. Beruht die Fehlprognose darauf, daß dem Gegensatz zwischen Sozialismus und Liberalismus ein tieferer zugrunde lag, der elementare Gegensatz zwischen Land und Meer?

Eine grundlegende Wendung der abendländischen Kultur war die des englischen Volkes zum Ozean, die nicht weniger bedeutete als die Vollendung der Raumrevolution, die den Anfang der Neuzeit zu einer Achse der Weltgeschichte hat werden lassen. England war zwar nicht Vorreiter – diese Rolle kommt Spanien, Portugal und den Niederlanden zu –, aber es beerbte die anderen maritimen Völker und fuhr die Ernte ein. Ausmaß und Wirkung dieser Wende hat der Staatstheoretiker Carl Schmitt 1944 in dem schmalen Band „Land und Meer“ beschrieben.

Ebensowenig wie der elementare Gegensatz zwischen terraner und maritimer Existenzform war Schmitt die daraus folgende Zweiteilung des Abendlandes entgangen: die Niederlande, Großbritannien und Nordamerika auf der einen Seite, Deutschland und Rußland auf der anderen; Frankreich, solange es den hugenottischen Protestantismus noch nicht ausgeschieden hatte, der maritimen Existenz zuneigend und danach oft schwankend. Die von Schmitt bei seinem historischen Rückblick vorgefundenen Ergebnisse des terran-maritimen Konflikts deuten auf die Überlegenheit der maritimen Form hin. Nur der Ausgang des Konflikts zwischen dem terranen Rom und dem maritimen Karthago hellt das Bild zugunsten der Terranen auf.

Wenn Land und Meer zwei Seinsentwürfe vertreten, muß der Gegensatz bis zum religiösen Kern vordringen. „Auch die religiösen Fronten und die theologischen Kampfparolen dieser Zeit tragen in ihrem Kern den Gegensatz elementarer Kräfte, die eine Verlagerung weltgeschichtlicher Existenz vom festen Lande auf das Meer bewirkt haben.“ Wir sehen im maritimen Raum den Calvinismus obsiegen. „Der Calvinismus war die kämpferische neue Religion; ihn ergriff der elementare Aufbruch auf das Meer als den ihm gemäßen Glauben.“ Im terranen Raum hingegen halten sich Katholizismus und Orthodoxie, und in dem im Religionskrieg unentschiedenen Deutschland sucht der politisch minderbegabte Luther nach einem wenig durchsetzungsfähigen Ausgleich. Katholizismus und Luthertum, von der Orthodoxie ganz zu schweigen, bedeuten Unterwerfung unter die Obrigkeit, Calvinismus hingegen das Bewußtsein, einer Gemeinschaft der Auserwählten, der nicht zum Untergang Verdammten zuzugehören.

„Es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts. Wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigene. Das ist unsere Freiheit, Freiheit von der wirtschaftlichen Willkür des einzelnen.“ (Spengler)

Daß das auf der Prädestination aufbauende aggressive Selbstverständnis sich entladen konnte, folgt aus der Art der maritimen Existenz. Während sich das Land Dutzende von Staaten und Völkern teilen, gehört die See niemandem und damit praktisch einem. Die maritime Existenz ist ortlos und darum tendenziell universalistisch, die terrane hingegen verortet, am Staat orientiert und darum tendenziell partikularistisch. Und selbst dort, wo die terranen Völker universalistische Ideen hervorbringen, widersprechen sich diese und berauben sich ihrer Durchschlagskraft. Daraus folgt „die diplomatische Überlegenheit, mit der die Seemacht die Gegensätze zwischen den Landmächten auszunutzen und ihre Kriege durch andere zu führen“ weiß. Thomas Morus schon hatte im 16. Jahrhundert die Aufgabe vorgezeichnet, Kriege mittels der „Zapoleten“ zu führen, wilder Völker, die sich gern für ein paar Münzen totschlagen lassen. Die englische und nord­amerikanische Politik zog hieraus bis in unsere Tage ihren Gewinn.

Die Wendung vom Land zum Meer bestimmt schließlich auch den Vorrang der Wirtschaft und deren Form: „Aller Handel ist Welthandel, aller Welthandel ist Seehandel, aller Welthandel ist Freihandel.“ Hier fließt die Quelle nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen und intellektuellen Liberalismus. Der Vorrang der Wirtschaft vor dem Staat setzt voraus, daß die Insellage den größten Teil der staatlichen Vorsorge ersetzt.

Es erhebt sich die Frage, ob der Universalismus, namentlich jener in Gestalt der Menschenrechtsideologie, und die ihm eigene Tendenz zur Planierung der Vielfalt auch im Kampf um die Form der abendländischen Zivilisation einen Vorsprung verschafft. Wenn die Zivilisation die Tendenz zur größtmöglichen Ausdehnung hat, muß sie sich einer universalistischen Ideologie bedienen, und die größtmögliche Ausdehnung läßt sich nur bei größtmöglicher Gleichheit der Verhältnisse erreichen. Zivilisation ist Spengler zufolge die ins Expansive, Imperialistische gewendete Kultur, „der Wille zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen, intellektuellen Sinne (...) in der Entschlossenheit, durch die Mittel der faustischen Technik und Erfindung das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen“.

Der Gegensatz zwischen Universalismus und Partikularismus spiegelt sich im Gegensatz der Leitsterne Gleichheit und Freiheit, der die Philosophie illuminiert: „Nicht zufällig erblühte die Logik der Freiheit in Deutschland zu einer Art Nationalcharakter und brachte den deutschen Idealismus und die Romantik hervor, als absehbar wurde, daß sie durch eine andere Idee existentiell bedroht ist, nämlich durch die sich zeitgleich in Frankreich erhebende Logik der Gleichheit. Das Auseinandergeraten dieser beiden gegensätzlichen Ideen und Prinzipien bildete die Ursache für die großen geistigen und militärischen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa“ (Frank Lisson).

Auch unter den terranen Mächten fehlte es freilich nicht an Anstrengungen, der letzten großen Aufgabe zu genügen. Dem auf das Ende des Staates setzenden bolschewistischen Rußland gelang mit Hilfe der deutschen Philosophie die Ausrichtung an den Prinzipien des Universalismus und der Gleichheit – freilich nur theoretisch, die Praxis lud nicht zur Nachahmung ein. Dem nationalsozialistischen Deutschland mißlang die Aufgabe schon theoretisch. Zwar transzendierte es den nationalstaatlichen Horizont, konnte aber wegen der neue Grenzen ziehenden rassistischen Komponente keine universell wirkende Idee ausbilden und anders als der Faschismus keinen Anschluß an die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen finden.

So gelang es den maritimen Mächten, nachdem ihnen bislang die deutsch-französische Rivalität in die Hände gespielt hatte, die zuletzt verbliebenen terranen Großmächte Deutschland und Rußland, die beide einen Sozialismus im Schilde führten, gegeneinander aufzustellen. Erneut wog der Vorsprung der maritimen Seite den überlegenen terranen Vorrat an personellen und sachlichen Mitteln auf. Die gegenseitige Lähmung der terranen Mächte überdauerte das Kriegsende, indem Rußland in der Rolle der Zapoleten verharrte und sich „für ein paar Münzen“ herbeiließ, den schmutzigsten Teil der Geschäfte der Maritimen zu besorgen. Wenn Schmitt den Sieg Roms über Karthago als einen der seltenen Fälle des Sieges einer terranen Weltmacht über eine maritime anführt, so wird jetzt der Unterschied zur Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich: die schwer zu erringende Einheit der terranen Welt.

Ließe sich, würden sich die Landmächte einig, die Entwicklung korrigieren? Die von Spengler erkannte Stunde, in der der Welt der abschließende zivilisatorische Stempel aufzudrücken war, ist überwiegend verstrichen, die Welt zur weithin amerikanisierten One World geworden. Wenn die Prägung der Welt die letzte große Aufgabe der abendländischen Völker war und die terranen Mächte die Stunde versäumt haben, so zeitigt dies Wirkungen, deren Ernst durchaus, deren Ursprung aber nicht einmal im Ansatz erkannt ist. Um die wichtigste und zugleich verkannteste der Wirkungen zu nennen: Die terranen Völker werden ausweislich ihrer demographischen Entwicklung und deren scheinbar rätselhafter Unbeeinflußbarkeit als erste überflüssig und machen sich als erste demographisch aus dem Staub.

Wenn die Prägung der Welt die letzte große Aufgabe der abendländischen Völker war und die terranen Mächte die Stunde versäumt haben, so zeitigt dies Wirkungen, deren Ernst durchaus, deren Ursprung aber nicht einmal im Ansatz erkannt ist.

Schmitts Essay entsprang der konkreten Lage. Diese legte nahe, den Zweiten Weltkrieg im Kern als Auseinandersetzung zweier terraner Mächte zu begreifen, ein Verständnis, das sich bis heute erhalten hat und als einer der großen Desinformationserfolge gelten darf. Schmitt lag daran, die wahre Frontstellung zu enthüllen. Und er machte sich keine Illusionen. Aus gutem Grund beschwor er deshalb am Ende seines Essays ein neues Stadium der planetarischen Raumrevolution, indem er auf die eingetretene Entwicklung des Flug- und Funkwesens und deren Potenz verwies.

Hellsichtig folgerte er aus der Verlagerung der menschlichen Machtbestrebungen in den Luft- und Weltraum die Entwertung der Basis der maritimen Mächte und witterte neue Chancen für jene Macht, die bei der neuen Raumnahme die Nase vorn haben würde. Das war seinerzeit Deutschland, welches als wissenschaftlich-technologische Avantgarde der Terranen im Begriff stand, der Welt den Weg in die neue Zeit zu weisen. Der Ausgang des Krieges hat das terrane Europa dieser Chance beraubt. Inzwischen ist die neue Technik unter anglo-amerikanischem Vorzeichen zum Kleid der Erde geworden.

Aber auch die Mission der maritimen Völker geht zu Ende. „Es wird“, so Spengler, „in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keine Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab.“ Schmitt erinnert daran, daß nach jüdischer Überlieferung der Leviathan, das Meerestier, und Behemoth, das Landtier, sich am Ende der Zeit gegenseitig im Kampf töten werden und der Herr das Fleisch beider bei einem Gastmahl den Gerechten zur Speise vorsetzen wird. Spengler hätte dem zugestimmt.

Am 11. April 1945, während amerikanische Panzer vorbeirasselten, notierte Ernst Jünger: „Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht wieder wie einst nach Jena oder nach Sedan. Sie deutet eine Wende im Leben der Völker an.“ Weder damals noch später zweifelte er an der Notwendigkeit des Eingetretenen: „Der Möglichkeiten waren viele – wir können, da wir das Ergebnis kennen, nachrechnen. Der rechte Flügel mußte stärker sein. Und dennoch: der Zeitgeist war mächtig, der Charakter zwingend; die Entscheidung, gut oder böse, falsch oder richtig, konnte nicht anders sein. Deshalb wird aus der Geschichte nichts gelernt. Der Täter wähnte, die Zukunft zu bestimmen, doch wurde er eher von ihr angezogen, fiel ihr anheim. Im Augenblick geschah Notwendiges. Es spiegelt sich in seiner Unwiderruflichkeit.“

 

Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, arbeitete seit 1970 als Jurist. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über parlamentarische Wahlen („Es gewinnt immer die Bank“, JF 24/09).

Foto: Amerikaner beim Einmarsch in Wernberg/Oberpfalz, April 1945

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