© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Perspektiven aus Ziekohnia
Magnus Schauen spiegelt in seinem Roman die Lebenswelten zwischen Erstem Weltkrieg und fünfziger Jahren wider
Siegmar Faust

Magnus Schauen? Noch nie gehört. „Brille“ als Romantitel eines Wälzers von 840 Seiten – lächerlich! Dazu noch eine „Geschichte aus Deutschland“, als gäbe es davon nicht schon genug. – Diese gab es so noch nicht! Die historische Botschaft von Schauens Roman weist weit über seinen zeitgeschichtlichen Umfang vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Neuanfänge deutscher Eigenstaatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus und zieht den Leser spätestens dann in seinen Bann, wenn er sich in die in einem ländlichen Umfeld erstaunlich vielschichtige soziale Welt der Handlung eingelesen hat. Zugleich zeigt das Buch, wie schwer es –  auch den Durchschnitt zeitgenössischer Literatur überragende – Werke haben, auf dem Buchmarkt wahrgenommen zu werden, wenn sie von einem unbekannten, nicht mehr ganz jungen Autor stammen.

„Brille“ ist der Spitzname eines sechsjährigen Knaben, der 1935 in die Schule kommt. Sein Vater, der zum begeisterten Anhänger des NS-Regimes geworden ist und unter dem Makel seines Sohnes, ein „Brillenträger“ zu sein, mehr leidet als das Kind selber, verkörpert in tragischer Weise den fleißigen, zuverlässigen und pflichtbewußten Funktionär, dem das Regime seine Effizienz und Akzeptanz in weiten Teilen der Bevölkerung verdankte. Im Schicksal der auffällig schönen Mutter eines Mädchens, das am selben Tag eingeschult wird wie der Protagonist, spiegelt sich eindrucksvoll Hoffnung und Scheitern jüdischen Lebens im damaligen Deutschland.

Verwoben in die Ereignisse dieser Jahre entfaltet der Autor in 15 Kapiteln das Schicksal der Erwachsenenwelten und der beiden Kinder, ausgefüllt mit dem Pathos sowie den Erwartungen und Versuchungen jener Jahre. Anschaulich sind in der Mikrowelt einer ländlichen Kleinstadt in der Mitte des Deutschen Reiches die damaligen Ereignisse nachzuvollziehen.

Der Autor bettet die „deutsche Katastrophe“ zwischen Versailles 1919 und Potsdam 1945 in an Fontane erinnernde Dialoge und Landschaften ein, und der Leser glaubt, Rankes „Wie es gewesen ist!“ hätte Pate gestanden.

Im dritten Kapitel „Reminiszenzen“ werden in einer Rückblende bedrückende Kriegsszenen aus dem Ersten Weltkrieg wie der Rückzug deutscher Stellungen auf die „Siegfriedlinie“ geschildert, der mit den in Ödland verwandelten aufgegebenen Gebieten den damaligen Feindmächten reichlich Gelegenheit bot, die Rücksichtslosigkeit des Grabenkriegs anzuprangern.

Raffiniert erscheint schon in diesem frühen Teil des Romans ein noch immer kriegsbegeisterter Meldegänger an der Westfront. Ein Schelm, dem bei dem devoten Gefreiten nicht der spätere Oberste Befehlshaber der Wehrmacht einfiele. Die Orientierungslosigkeit, zu der der verlorene Krieg, mehr noch aber der von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen als demütigendes Diktat empfundene Versailler Vertrag führten, treten in der ländlichen Kleinstadtwelt anschaulich zutage. Der Autor macht nicht halt vor den quälenden und bewegenden Gesprächen der Wissenden und Ahnenden, nicht vor den „gewöhnlichen“ Exzessen des Regimes, nicht vor der Affinität sich elitär verstehender junger Männer – hier in Gestalt eines achtzehnjährigen Offiziers der Waffen-SS – zum Werk Heinrich von Kleists. Vor allem wird schonungslos die eiskalte, jeder menschlichen Regung ferne „Logik“ der nationalsozialistischen Rassentheorie vorgeführt.

Im letzten Kapitel überschreitet der Autor eine in der deutschen Nachkriegsliteratur oft genug respektierte und wohl dem Zeitgeist geschuldete historische Grenze. Denn der Roman endet nicht 1945 mit der vermeintlichen „Befreiung“. Im 15. Kapitel „Abgesänge“ setzt sich die überwunden geglaubte Geschichte von Willkür und Unrecht mit dem Einbruch der sowjetkommunistischen Herrschaft unter dem Deckmantel einer „demokratischen“ Siegermacht fort – einschließlich der bizarren Note, die der Entstehungsgeschichte der Uno durch die stalinistische Sowjetunion als privilegiertes Gründungsmitglied bis heute anhaftet.

Seine „deutsche Geschichte“ beendet der Autor wohl nicht ohne Hintersinn im eher lasziven Ambiente eines Nachtlokals im Amerikanischen Sektor Berlins der fünfziger Jahre. In einem Dialog mit einem damals einflußreichen Publizisten aus einem neutralen Land leuchtet er eher unauffällig die Grenzen heutigen historisch-politischen Selbstverständnisses aus. Und auch der letzte Satz des Romans läßt den Leser – wie schon zu Beginn des Buches – mit Fragen zurück, die zu beantworten ihm allein überlassen bleibt: Ist Ziekohnia ein Spiegelbild aller Orte in Deutschland? Einzelne Verwechslungen und Fehler, die wahrscheinlich nur wenigen Lesern aufstoßen dürften – beispielsweise war es Fritsch und nicht Beck, der 1939 vor Warschau den Tod suchte –, lassen sich bei dem Umfang des Buches und der Fülle historischer Einzelheiten wohl kaum vermeiden.

Magnus Schauen: Brille. Eine Geschichte aus Deutschland. Triga Verlag, Gelnhausen 2008, broschiert, 840 Seiten, 18 Euro

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