© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Die Schuld als Bürgerkult
Der 8. Mai im Wandel: Noch 1950 fühlte sich kaum ein Deutscher befreit, heute fühlen dies über achtzig Prozent
Karlheinz Weissmann

Als 2005 der sechzigste Jahrestag des Kriegsendes bevorstand, war man präpariert. Ein Allparteienaufruf ohne PDS erklärte den 8. Mai zum „Tag für die Demokratie“. Die Event-Nacht mit Zeitzeugenberichten und DJ Eric, veranstaltet von der JU Saarland, war typisch, untypisch der „Aufruf gegen das Vergessen“, den mehrere hohe Offiziere veröffentlichten.

Nach einer Umfrage von INFAS betrachteten mehr als 80 Prozent der Bundesbürger den 8. Mai als „Tag der Befreiung“, unter den Jüngeren waren es sogar über 90 Prozent – das Ergebnis eines drastischen Einstellungswandels, der sich in der Nachkriegszeit vollzogen hat. Als 1950 zum fünften Jahrestag das Institut für Demoskopie Allensbach eine Befragung durchführte, fühlte sich niemand befreit, sondern die Erinnerungen an den Vorgang der Besetzung bestimmten die mehr oder weniger negative Einschätzung des Datums „8. Mai“.

Von „Befreiung“ sprachen   nur die Kommunisten

Das Wort „Befreiung“ benutzten nur die Kommunisten, eine bedeutungslose Minderheit diesseits, absolute Machthaber jenseits der innerdeutschen Grenze. In der DDR war von ihnen ein Geschichtsbild verordnet, das es erlaubte, 1945 als Quasi-Revolution zu deuten und als „Befreiung“ insofern, als die Sowjetarmee die Unterdrückung des Volkes – mithin aller, abgesehen von Junkern, Militaristen und Faschisten – beendet hatte.

Der Täuschungscharakter solcher Interpretation war leicht zu durchschauen, sie wurde von der Bevölkerung der DDR sowenig akzeptiert wie vom Gros der Westdeutschen. An der Basis erinnerte man sich viel zu gut der Übergriffe der Sieger, der Vergewaltigungen, Vertreibungen, Verschleppungen, Demütigungen, die mit dem Einmarsch der alliierten Truppen verbunden gewesen waren.

 Allerdings gab es in der Bundesrepublik eine deutliche Trennung zwischen oral history (Erinnerungsinterviews mit Zeitzeugen als historische Quelle) und offizieller Darstellung. Auch der Nachkrieg war Gegenstand des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe), und am Text einer Broschüre der Bundesregierung mit dem Titel „Vom Chaos zum Neubeginn“, die Anfang der fünfziger Jahre veröffentlicht wurde, war weniger aufschlußreich, was gesagt, als was nicht gesagt wurde. Man erwähnte ausdrücklich die Opfer an Menschen und Material – aber den Verursacher nur, wenn es sich um die Sowjetunion handelte. Von den Bombenschäden etwa, die Briten und Amerikaner zu verantworten hatten, sprach man wie von Naturkatastrophen. Im übrigen galt der Blick den Aufbauleistungen, jeder Bezug auf die Schrecken von 1945 stand im Ruch des „Ressentiments“.

Das hatte seinen Grund, denn bis zum Mauerbau waren viele Beobachter, nicht zuletzt auf Seiten der Siegermächte, überzeugt, daß der Zusammenbruch, der Verlust der Ostgebiete und die dauerhafte Teilung eher über kurz als über lang zur Entstehung einer radikalen Bewegung führen mußten. Man rechnete im Grunde mit der Wiederkehr Weimarer Verhältnisse und gewöhnte sich nur ganz allmählich daran, daß es keine „deutsche Gefahr“ mehr gab.

Abgesehen von dem anderen Ausmaß der Niederlage 1945 im Vergleich zu der von 1918 spielte für die Aussichtslosigkeit eines neuen Nationalismus auch die kluge Haltung Adenauers eine Rolle, der dem kollektiven Selbstgefühl Spielraum gab. Zudem traten alle Parteien für die Wiedervereinigung ein, und die wichtigsten lehnten die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ab, der Staat selbst zeigte sich demonstrativ als deutscher Staat.

Die Bevölkerung akzeptierte dieses Arrangement, hielt zwar die Erinnerung an Realitäten von Krieg und Nachkrieg wach, die die Politik aus Opportunitätserwägungen verschwieg, aber der Wiederaufbau band die Energien, und der wachsende Wohlstand führte zu einer Entpolitisierung, die erst in den unruhigen sechziger Jahren in Frage gestellt wurde.

Tatsächlich zielte der „Antifaschismus“ von Studentenbewegung und Apo nicht nur auf eine Verschiebung im Bild der NS-Zeit, sondern auch auf eine Umwertung des Jahres 1945. Dabei vertrat die Neue Linke Interpretationen, die den Argumentationsmustern der Umerziehung folgten, vor allem was die Kollektivschuld der Väter anging. Eher unscharf blieb, wer „befreit“ wurde, und die Frontstellung gegenüber den USA konnte durchaus dazu führen, angesichts der Solidarität mit dem weltweiten Befreiungskampf auch die Frage nach der deutschen Freiheit zu stellen.

Als 1985 des vierzigsten Jahrestags von Kriegsende und Kapitulation gedacht wurde, hat ein Mann wie Ekkehard Krippendorff, der zu den Veteranen der APO gehörte, eine ausgesprochen instruktive „Klassenanalyse“ des Geschehens von 1945 geliefert: „Das Deutsche Reich sollte als Wirtschafts- und Militärmacht (…) auf Dauer zerschlagen werden. Befreiung von der NS-Herrschaft war das Mittel dazu, nicht aber Ziel und Zweck.“

Diese Art „realpolitischer Beurteilung“ war in den achtziger Jahren noch nicht vollständig marginalisiert. Der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, urteilte ähnlich wie Krippendorff über die Bedeutung des 8. Mai, und im bürgerlichen Lager gab es wenigstens Widerwillen dagegen, das Kriegsende zu „feiern“. Alfred Dreggers Einspruch gegen die Teilnahme Kanzler Kohls am alliierten Gedenken zum Jahrestag der Invasion hatte Erfolg und fand in der Union breite Unterstützung.

Vielfältige Neigungen, das deutsche Leid einzuebnen

Aber man sah sich doch einem neuen, mächtigen Zeitgeist gegenüber und dessen Inkarnation in Person des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Die von ihm in seiner Rede zum 8. Mai 1985 angebotene Deutung des Kriegsendes enthielt zum ersten Mal das, was bis heute als konsensfähig gilt. Dabei spielte der Bezug auf traditionelle Positionen kaum eine Rolle, entscheidend waren Uminterpretationen wie die der Vertreibung als einer „erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen“, überhaupt die Neigung, das deutsche Leid einzuebnen im Verhältnis zum Leid aller anderen, und die zentrale Formulierung: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“

Weizsäckers Rede dürfte eine der wirkungsvollsten offiziellen Ansprachen der Nachkriegszeit gewesen sein. Das hing auch damit zusammen, daß er nicht nur auf die Deutung des Jahres 1945 zielte, sondern auf eine Korrektur des Bildes der Nachkriegsgeschichte insgesamt. Damit räumte er viele bis dahin zäh verteidigte Positionen der Bürgerlichen, gab den „Modernisierern“ nach und integrierte den Teil der Linken, der sich in der Partei der Grünen politisch etabliert hatte und über außerordentlichen Einfluß in den Medien verfügte. Hier zeichneten sich Umrisse der „Neuen Mitte“ ab, und Weizsäckers Rede wurde deren Magna Charta.

 Die Neue Mitte ist seit den achtziger Jahren der bestimmende Faktor des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Das gilt für die alte wie für die neue Bundesrepublik. Denn die Erwartung, daß die Ereignisse von 1989 die von 1945 in ihrer Bedeutung reduzieren würden, hat sich als falsch erwiesen. Im Vorfeld des fünfzigsten Jahrestags des Kriegsendes mutmaßte noch der Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, der durch den Kollaps der Sowjetunion eingeleitete „rasante historische Wandel“ bringe ein Mehr an Verständnis mit sich, das „die Wirkungsgeschichte des 8. Mai 1945 sehr viel komplexer erscheinen läßt als bis zum Jahr 1989“.

Die Auseinandersetzung des Jahres 1995 um ein angemessenes Gedenken zeigte allerdings, daß die tonangebenden Kreise mit Zähigkeit an der einmal etablierten Auffassung festhalten wollten und gerade jeden Versuch zurückzuweisen entschlossen waren, den Aspekt des Zusammenbruchs oder den der Gründung einer zweiten deutschen Diktatur im Kontext des Jahres 1945 zur Geltung zu bringen.

Die Zahl der Opponenten war klein und beschränkte sich im wesentlichen auf einen Kreis jüngerer konservativer Intellektueller. Sie versuchten durch den damals in vielen Zeitungen publizierten Aufruf „Gegen das Vergessen“ und eine zentrale Gedenkveranstaltung einen anderen Akzent zu setzen als bei den offiziellen Feiern. Aber man hatte die Entschlossenheit unterschätzt, mit der diese Absicht von einer großen Koalition bekämpft wurde, die von der radikalen Linken bis zum Bundeskanzleramt reichte.

Das eigenartige Bündnis kam zustande, weil mit dem Appell  „Gegen das Vergessen“ eine zentrale geschichtspolitische Formel aus ihrem Kontext – der NS-Vergangenheitsbewältigung – genommen und auf die Situation der Deutschen im Jahr 1945 bezogen worden war. Das berührte einen empfindlichen Punkt. Denn diese Formel besaß bereits liturgischen Charakter und gehörte zu den wichtigsten Elementen jener „Zivilreligion“, die in den achtziger Jahren etabliert wurde.

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Vergessen“

Für die Linke bedeutete es eine massive Irritation, daß ausgerechnet eine von Union und FDP gestellte Regierung das Bekenntnis deutscher Schuld zum Mittelpunkt eines Bürgerkults machte, sogar auf dem „singulären“ und „unvergleichbaren“ Charakter dieser Schuld beharrte. Allerdings ging und geht es nicht nur um Schuld. Denn der Erinnerung wird ein praktischer und ein metaphysischer Nutzen zugeschrieben. Sie verhindert die Wiederholung des Übels und verhilft zur Absolution: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Zugespitzt könnte man sagen, daß für die Ereignisse von 1945 und das, was Deutschen widerfahren ist, die Umkehrung dessen gilt: „Das Geheimnis des Erlösung heißt Vergessen.“ Für ein solches Vergessen lassen sich Argumente anführen. Es gibt unter Psychologen durchaus Zweifel, ob die permanente Konfrontation mit dem Schrecken der Vergangenheit zur Gesundung der menschlichen Seele führt. Und was auf den einzelnen zutrifft, könnte auch auf das Kollektiv zutreffen. Wenn man die Entschlossenheit, mit der die Deutschen die Vorgänge des Jahres 1945 verdrängen und sich „befreit“ sehen, wohlwollend deutet, könnte man den Schluß ziehen, daß es sich um eine lebensrettende Maßnahme handelt – eine Art Amnesie, um nicht immer wieder auf etwas gestoßen zu werden, was unerträglich ist.

Allerdings vergessen die Nationen normalerweise ihre Schandtaten – die Franzosen die Bartholomäusnacht und die Massaker der Revolution, die Amerikaner die Ausrottung der Indianer und die Sklaverei, die Russen die Unterstützung des bolschewistischen Terrors –, nicht das ihnen zugefügte Leid.

In der Geschichte dürften sich kaum Parallelen zum Verhalten der Deutschen finden, weshalb der Verdacht naheliegt, daß es sich nicht um Therapie, sondern um Pathologie handelt. Und wenn man nach der eigentlichen Ursache dieser Pathologie forscht, dann findet man sie in der Niederlage selbst. Die Niederlage hat die Deutschen davon überzeugt, daß sie zu den „widerlegten Völkern“ (Arnold Gehlen) gehören.

 

Stichwort: Tag der Befreiung 2010

Der „Tag der Befreiung“ wird auch 2010 durch Aktionen der linksextremen Antifa geprägt. So ruft der AK Angreifbare Traditionspflege zur Befreiungsfeier in Mittenwald. In Berlin „tanzt“ die Autonome Antifa Lichtenberg Süd ihre antifaschistische Parade. Auch in Kiel lädt die örtliche Antifa zur Kundgebung. Parallel hierzu hat die Bundestagsfraktion der Linken Ende Januar 2010 den Antrag gestellt, den „Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Gedenktag zu machen (DS 17/585). In Mecklenburg-Vorpommern wurde der 8. Mai als Tag der Befreiung bereits im März 2002 zum Gedenktag ernannt.

Foto: Zweimal 8. Mai: Vertriebenenschicksal 1945 und Zusammenkunft der Vertreter aus Politik, Kultur und Wirtschaft als Unterzeichner des Aufrufs „8. Mai 1945: Befreiung von der Nazi-Diktatur! 8. Mai 2005: Ein Tag für die Demokratie!“ am 8. Mai 2005 vor dem Brandenburger Tor in Berlin

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