© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Mittags sitzt Thierse, abends brennt Kreuzberg
Krawalle in Berlin: Der Bundestagsvizepräsident wetteifert am 1. Mai mit gewalttätigen Linksextremisten um die größte Aufmerksamkeit
Lion Edler

Helm ab zum Gebet“, ruft ein Demonstrant über einen Lautsprecher den Polizisten zu. Die Ordnungshüter, so fordert er, sollen „genauso friedlich bleiben wie wir schon den ganzen Tag“.

Optisch und rhetorisch hatte es nicht immer den Eindruck erweckt, daß die Teilnehmer der Gegendemonstration an der Bornholmer Brücke  im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg sich in diesem friedlichen Willen einig sind. Sprechchöre wie „Für die Freiheit, für das Leben, Nazis von der Straße fegen“ oder „Gebt den Nazis die Straße zurück – Stein für Stein“ stießen jedenfalls auf keinen Unmut. Ein Sprecher der Demonstration gegen die „Autonomen Nationalisten“ warnt davor, daß sich unter die linke Demonstration auch einige Leute mischen könnten, „die definitiv nicht zur linken Szene gehören“. Fast verplappert sich der junge Mann. Wenn man jemanden von der sogenannten „Anti-Antifa“ antreffe, „dann haut sie ... nein, das darf ich nicht sagen, dann verweist sie von der Demo“. Applaus und Gelächter kommentiert die Bemerkung.

Tausende zivil Gekleidete und Vermummte haben sich zu einer Mischung aus Volksfest und absurdem Geländespiel eingefunden. Die Berliner Morgenpost wird später schreiben, daß die Rechtsextremisten in Berlin einem „breiten gesamtgesellschaftlichen Bündnis“ gegenübergestanden hätten. Betrachtet man die Flaggen, die bei dieser Demo zu sehen sind, dann scheint dieses „gesamtgesellschaftliche Bündnis“ ganz links bei der MLPD, Attac und Solid zu beginnen und bei Grünen und SPD aufzuhören. Auf der anderen Seite der Bornholmer Brücke gehören auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) und sein Bundestagskollege Wolfgang Wieland (Grüne) dazu. Sie beteiligen sich an den Sitzblockaden, erheben sich dann aber nach Aufforderung der Polizei wieder. „Es ist nicht meine Art, mich in ein Abenteuer zu stürzen“, hatte Thierse dagegen noch vor der Demonstration verkündet.

Dieses Verhalten sollte Thierse massive Kritik einbringen. Die Deutsche Polizeigewerkschaft schimpfte, niemand müsse sich über den Verlust von staatlicher Autorität wundern, „wenn höchste Amtsträger öffentlich dokumentieren, daß Rechtsbruch zulässig sei. Herr Thierse ist die personifizierte Ansehensschädigung des deutschen Parlaments, er sollte schleunigst zurücktreten“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende Rainer Wendt gegenüber dem Nachrichtensender N24.  Auch der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Hans-Peter Uhl (CSU), war erzürnt. Für Thierse gebe es „nur linke Grundrechtsträger“. „Rechte haben nach Thierses Verständnis keine Grundrechte“, beklagte Uhl in der Berliner Zeitung.

Selbst in den eigenen Reihen ist man nicht begeistert. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) empfand Thierses Verhalten als „nicht so toll“. Sein Hinweis an Thierse, daß es sich hierbei mindestens um eine Ordnungswidrigkeit handle, habe ihn leider nicht umstimmen können, sagte Körting.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele wiederum hatte im Vorfeld dazu aufgerufen, „gegen diese Demonstration der Nazis auf die Straße zu gehen und denen die Straße streitig zu machen, notfalls dadurch, daß man die Straße besetzt“. Er taucht jedoch nur zwischenzeitlich auf und beobachtet das Treiben reserviert von seinem Fahrrad aus.

Die Blockaden an der Bornholmer Brücke verfehlen ihre Wirkung nicht, nach nur etwa 800 Metern müssen die „Autonomen Nationalisten“ wieder den Rückzug zum S-Bahnhof Bornholmer Straße antreten. Ohnehin war die Demonstration mit etwa 600 Teilnehmern deutlich unter den Erwartungen von bis zu 3.000 zurückgeblieben. Etwa 300 weitere sollen am S-Bahnhof Halensee Polizeibeamte angegriffen haben und sich von dort zum Adenauerplatz bewegt haben. Am Nachmittag nimmt die Polizei in Charlottenburg 286 rechte Demonstranten in Gewahrsam.

Bei der abendlichen sogenannten „Revolutionären 1.-Mai-Demo“ in Kreuzberg scheint das gesamtgesellschaftliche Bündnis deutlich weniger breit zu sein. „Klasse gegen Klasse“ oder „Für den Kommunismus“ steht auf Transparenten auf der Kottbusser Brücke. Der Demonstrationszug startet etwa eine Stunde später als angekündigt, weil man auf Anreisende wartet, die zunächst noch am Prenzlauer Berg mit Sitzblockaden beschäftigt waren. Es bleibt zunächst gewaltfrei, und immerhin bittet die Sprecherin der Demonstration darum, den Konsum von Alkohol und Drogen zu unterlassen und auch keine Gewalt anzuwenden („Bewahrt einen kühlen Kopf!“). Nach Angaben der Polizei haben über 10.000 Menschen an der Demonstration teilgenommen, darunter einige hundert Gewaltbereite.

Und so kommt es denn auch nach dem Ende der Demonstration zu den ersten Stein- und Flaschenwürfen,  Feuerwerkskörper werden gezündet. Die Ordnungshüter nehmen einige Randalierer fest. Die Berliner Polizei spricht beschwichtigend von „einzelnen Provokateuren“, die die Lage anheizen wollten. In der Nacht spitzt sich die Situation dann noch einmal zu. Insgesamt 98 verletzte Polizisten, lautet schließlich die Bilanz. Im Vergleich mit den 479 im vergangenen Jahr verletzten Polizisten sprechen manche Verantwortliche sogleich von einer friedlichen Nacht und loben die Polizeitaktik – Kritiker sehen darin eher einen Gewöhnungseffekt.

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