© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Heer der Ahnungslosen
Bildung: Lotsen-Programme als Ausdruck politischer Flickschusterei
Rolf Dressler

Anfang Mai 2010. Eine normale, ganz reale Unterrichtsstunde in der 3. Klasse einer Bielefelder Grundschule. Ein Neunjähriger im Originalton: „Holger, ich hab’ Kopfschmerzen. Muß mal eben nach draußen ...“ Antwort des Deutschlehrers Holger: „Okay, aber nicht zu lange.“ Nur wenig später eine Schülerin: „Holger, ich muß aufs Klo ...“ „Okay, zieh los, aber beeil dich!“ Der gute Holger, wohlgemerkt, ist der Klassenlehrer mit den Fächern Deutsch und Mathematik, wird jedoch locker von allen geduzt. Die allgemeine Unruhe indes, den störenden Dauerlärmpegel im Klassenzimmer vermag er kaum zu dämpfen.

Ein stiller „Gasthörer“ kennt das schon. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter vom Deutschen Kinderschutzbund wird er auch diesmal gleich nach dem Schlußklingelzeichen mit einem der Drittkläßler wenigstens das Lesen (nach-)üben. Ein mühsames Unterfangen, Wort für Wort, Zeile für Zeile: Besonders schwierige Kandidaten schaffen in fünf oder zehn Minuten kaum mehr als einen einzigen Satz.

Bildungsdesaster? Erziehungskatastrophe? Permanente Versuche am lebenden Objekt? Stichwort Bildungsdesaster: Nie zuvor wurde hierzulande mehr Geld und mehr Personal für Bildung und Ausbildung aufgewendet, hielt der Staat so viele Angebote bereit. Es ist deshalb unfaßbar, daß inzwischen trotzdem bereits jeder fünfte Bewerber als nicht lehrstellentauglich eingestuft wird – Tendenz steigend: ein Armutszeugnis. Doch Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) läßt sich nicht beirren und versucht mit einem millionenschweren „Bildungslotsen“-Notprogramm das Problem zu kitten.

Stichwort Erziehungskatastrophe. Immer mehr Kindern und Jugendlichen mangelt es außer an grundlegenden Kenntnissen beim Lesen, Rechnen und Schreiben zudem elementar an dem Willen zu Selbstdisziplin, Ordnung, Pünktlichkeit und Teamfähigkeit.

Stichwort Herumdoktern am lebenden Objekt Kind. Seit vierzig Jahren geht das nun schon so. Eine ideologisch befeuerte Dauer-Reformitis irrlichtert durch die Köpfe von Politikern aller Farben. Daran kühlen die Aktionisten ihr Mütchen – und stolpern doch nur von Offenbarungseid zu Offenbarungseid. In Deutschlands Regierungsfluren und Versammlungssälen führen sie sich auf wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, flüchten sich in Augenwischer-Betriebsamkeit. Und immer wieder kreisen ihre Heilsverheißungen nur um Ganztagsschulen, am besten gleich für alle und mit Rundum-Fremdbetreuung  von früh bis spät, organisiert vom allzeit treusorgenden Übervater Staat.

Die Folgen sind desaströs, scheinen am allerwenigsten aber die Verursacher zu schrecken. Immer mehr Schüler können nur unzureichend lesen, schreiben und rechnen. Ein Ansturm von Ahnungslosen brandet jährlich gegen Deutschlands Hochschulen. Denn rat- und orientierungslos wie der Ochs’ vorm Berge stehen groteskerweise sogar viele Abiturienten da, weil sie schlicht nicht wissen, was bei einem Studium konkret auf sie zukommt.

Es ist kaum zu beschreiben, was die jahrzehntelang flickschusternde, sogenannte Reformpädagogik unserem Land eingebrockt hat. Mit ihrer ruinösen Schonhaltung führt sie bis heute einen verbissenen Kampf gegen die angeblich schädliche, wenn nicht gar menschenfeindliche „Überforderung“ von Schülern aller Altersklassen. Das wirkt(e) bewußtseinsverändernd – nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Eltern: Sie behaupten, dem ganzen Streß mit ihren Sprößlingen nicht mehr gewachsen zu sein, und geben die Kleinen kurzerhand in fremde Hände; die jüngsten in die Kita, die älteren in die Ganztagsschule.

Seltsam stumm bleiben selbst solche Eltern, die eigentlich noch am ehesten gegen verblendete Bildungsideologen aufstehen müßten, die ihnen nicht mehr zutrauen, ihre alltäglichen Daseinsabläufe und persönlich-familiären Obliegenheiten in bestem Wortsinne selbständig und in Eigenverantwortung zu gestalten.

„Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Dieser Schlachtruf der Achtundsechziger zielte maßgeblich auf die Zerstörung der angeblich reaktionären, sprich: zukunftsschädlichen Institutionen Ehe und Familie. Und damit generell auf die Aushebelung jedweder überbrachten Autoritäten in Elternhaus, Schulen und Hochschulen wie auch in sonstigen Organisationen staatstragender, kultureller oder kirchlicher Herkunft.

Deshalb sage nur niemand, daß die 68er-Ideologie Vergangenheit sei. Nein, sie geistert auch 2010 quicklebendig durchs Land – ob im Schulunterricht, in Examensarbeiten, in feurigen Wahlkämpferreden oder in den Fernseh-Talkshows. In der Anne-Will-Runde am letzten Sonntag meinte Christa Goetsch, grüne Bildungssenatorin in Hamburg: Bevor man über Lehr- und Lerninhalte reden könne, über den Urwert einer soliden humanistisch-christlichen Allgemeinbildung, müßten erst einmal „die Strukturen“ an unseren Schulen, durchgreifend verändert, soll heißen: auf den Kopf gestellt werden.

„Die Strukturen“ – das ist sie bis heute, die urtypisch kalte Begriffsvernebler-Welt der 68er. Den Schaden davon haben unsere Kinder und Kindeskinder. Denn: Wer nicht einmal der Sprache des Landes mächtig ist, in welchem er auf Dauer lebt und leben möchte, wird weder dessen Kultur verinnerlichen noch sich dessen Wertefundamente je zu eigen machen (wollen).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen