© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Im Namen des Sozialismus
Im April 1990 schüttelten die Chemnitzer den von der SED verordneten Namen „Karl-Marx-Stadt“ ab / Die Provinz verharrte beim alten
Paul Leonhard

Mit einem Festumzug und einem großen Kulturfestival werden die Einwohner von Chemnitz Pfingsten der Rückbenennung ihrer Stadt vor zwanzig Jahren gedenken. Mit der auf Druck der Bevölkerung 1990 erfolgten Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt habe eine „andere Zeitrechnung“ begonnen, erinnerte sich Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig.

Damit verwendete die Sozialdemokratin fast die gleiche Formulierung wie die Einheitssozialisten 37 Jahre zuvor. Als die SED-Regierung der sächsischen Industriestadt ihren traditionellen Namen entriß, sollte es für die Ewigkeit sein. „Die Menschen, die hier wohnen, schauen nicht rückwärts, sondern sie schauen vorwärts auf eine neue bessere Zukunft. Sie schauen auf den Sozialismus. Sie schauen mit Liebe und Verehrung auf den Begründer der sozialistischen Lehre, auf den größten Sohn des deutschen Volkes, auf Karl Marx“, formulierte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl beim Festakt zur Umbenennung am 10. Mai 1953 und betonte: „Ich erfülle hiermit den Beschluß der Regierung.“ Denn die Chemnitzer waren nie gefragt worden. Trotzdem jubelte damals der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte überzeugte Sozialist und spätere Dissident Stefan Heym: „Chemnitz gehört der Vergangenheit an. Karl-Marx-Stadt aber gehört die Zukunft.“

76 Prozent der Chemnitzer stimmten für alten Namen

Nicht einmal vier Jahrzehnte sollte diese „Zukunft“ dauern, aber die Zeit reichte den Herrschenden, um das alte Chemnitz architektonisch und städteplanerisch auszulöschen. Statt aufzubauen, wurden Ruinen und halbzerstörte Gebäude, die der alliierte Bombenangriff vom 5. März 1945 hinterlassen hatte, rücksichtslos weggeräumt und neue Straßen und Sichtbeziehungen geschaffen. Die erste sozialistische Großstadt sollte entstehen. In den Köpfen der Einheimischen allerdings blieb der Name Chemnitz fest verankert. Für die neue Bezeichnung hatten sie nur Spott übrig: „Bezirksstadt mit drei o? – Gorl-Morx-Stodt“. Deutlich wurde das im Herbst 1989. Aus den Montagsdemonstranten entstand eine Bürgerinitiative „Für Chemnitz“, die 40.000 Stimmen sammelte und so einen Volksentscheid erzwang. Bei diesem stimmten 76 Prozent der Menschen für den alten Namen, und seit dem 1. Juni 1990 heißt Chemnitz auch offiziell wieder Chemnitz.

Damit war die spektakulärste Umbenennung rückgängig gemacht worden. Aber den DDR-Bürgern war im Herbst 1989 nicht nur die Freiheit, die Abkehr vom Sozialismus stalinistischer Prägung und die deutsche Einheit wichtig. Sie kämpften für den Abzug der sowjetischen Besatzer und dafür, sich wieder zu ihren Traditionen bekennen zu dürfen. Dazu gehörte vor allem die Wiederherstellung der 1952 aufgelösten Länder. Streit gab es darüber, wie diese künftig aussehen sollten. Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität schlugen vor, den Bezirk Halle an Sachsen und den Bezirk Magdeburg an Brandenburg anzugliedern.

Der Dresdner Kirchenhistoriker Karlheinz Blaschke ging einen Schritt weiter: Er plädierte für ein Bundesland Sachsen/Thüringen (einschließlich des Bezirkes Cottbus) mit immerhin 9,2 Millionen Einwohnern, das in einem vereinten Deutschland eine wichtigere Rolle spielen würde. Aber so sehr die „großsächsische Lösung politisch und wirtschaftlich vernünftig“ gewesen wäre, dem „Identifikationsbedürfnis der Betroffenen würde sie nicht gerecht“, konstatierte damals die Wochenzeitung Sachsenspiegel. Überdies forderten die Pommern und Schlesier für ihre nach 1945 bei Deutschland verbliebenen Gebiete einen eigenen Länderstatus, auch wenn es sich dabei um nichtlebensfähige Zwergregionen gehandelt hätte. Sachsen räumte den Schlesiern schließlich im Raum Görlitz weitgehende Zugeständnisse in der Landesverfassung ein.

Waren die Rückbenennung der Stadt Chemnitz und die Wiedergründung der Länder bald abgeschlossen, hatten Städte wie Berlin (Ost) oder Guben ihre Beinamen „Stadt des Friedens“ bzw. „Wilhelm-Pieck-Stadt“ schnell abgeschüttelt, so erwies sich die Umbenennung von Straßen als ein zäher Prozeß und ein Gradmesser für eine politische Wende, bei der die einst herrschende Partei nicht – wie von vielen ihrer Opfer erhofft – verboten wurde, sondern unter dem neuen Namen PDS weiterhin agieren durfte und mit viel Geschick für ihre Klientel agierte.

Abgesehen von den historischen Altstädten, wo zwischen 1945 und 1989 nach Lenin, Marx, Engels, Liebknecht benannte Straßen und Plätze sehr schnell ihre traditionellen Namen zurückerhielten, erwiesen sich speziell auf dem Land und in den Kleinstädten die zu DDR-Zeiten verliehenen Namen als äußerst zählebig. Lediglich die Kommunalpolitiker der CDU und der DSU gingen das Thema kompromißlos an. In ihrer Hochburg Dresden wurden bis 1993 120 Straßennamen ausgetauscht, im von der SPD regierten Leipzig waren es 37. Nach 1995 wurden kaum noch Straßen umbenannt. Nur vereinzelt rangen noch Stadt- und Gemeinderäte mit Namen wie Clara Zetkin oder Kurt Fischer.

Es gibt keine Revolution ohne Wechsel der Straßennamen

Die Menschen in den neuen Bundesländern hatten andere Probleme. „Es gibt keine Revolution ohne Wechsel der Straßennamen“, hatte der israelische Wissenschaftler Maoz Azaryahu auf dem Deutschen Historikertag 1996 formuliert. Wie erfolgreich die SED-Politiker ihre Klientel für die Beibehaltung sozialistischer Straßen- und Schulnamen mobilisierte, notierte 2006 Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: „Wer in Ostdeutschland zu einer Landparty aufbricht, könnte leicht auf die Idee kommen, die SED sei dort noch immer an der Macht: Ernst-Thälmann-Straße, Rosa-Luxemburg-Straße, Straße der Einheit, Straße der Freundschaft – so heißen fast in jedem Dorf die wichtigsten Straßen. Sie haben nicht nur die friedliche Revolution im Herbst 1989 überdauert, sondern auch die Wiedervereinigung und 16 Jahre Demokratie.“ Überdauert hat auch das von dem russischen Bildhauer Lew Kerbel geschaffene sieben Meter hohe Karl-Marx-Monument. Der „Nischel“ steht heute noch im Zentrum von Chemnitz und hat sogar Eingang in das städtische Marketing erhalten. Denn die Universitätsstadt Chemnitz wirbt mit dem Slogan „Stadt mit Köpfchen“.

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