© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Wir wollen doch nur spielen
Gefühle im Leerlauf: Nachtwache mit Georg Heym, Jean-Paul Sartre, Helene Hegemann e tutti quanti
Frank Lisson

Vorm Eingang der Wächter: im modernen Gehrock, gepierct, strenger Blick, emotionslos. Nach einer Dreiviertelstunde Schlangestehen entscheidet er gewissermaßen über Leben und Tod, das heißt über drin oder draußen, über cool oder uncool. Nightlife selection. Seine Macht ist groß. Und er scheint sie auch zu genießen. Man möchte sich gar nicht vorstellen, wo er zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort Verwendung gefunden hätte. Ein paar Leute stolzieren an der Schlange vorbei, kennen den Seiteneingang.

Drinnen intensive Leibesvisitation. Der Raum faßt Tausende. Ameisenbau aus Beton und Stahl. Treppen und Geländer, mehrere Ebenen, zahllose Nischen, um sich zu verlieren. Eine Frau, Ende dreißig, trägt ein kurzes, enges schwarzes Kleid, das aus zwei Teilen besteht, die an den Seiten mit viel Abstand nur durch ein paar dünne Schnüre verbunden sind – eine Art Ausgehbadeanzug. Neben ihr ein Achtzehnjähriger in Converse Chucks All Stars, ausgewaschenen Röhrenjeans, T-Shirt, Haare ins Gesicht gekämmt: Siebziger-Jahre-Lifestyle, komplett von den Eltern übernommen. Am Treppengeländer posiert ein Mann mit Hosenträgern, nacktem Oberkörper und blank poliertem Schädel wie bei Meister Propper.

Die Musik, nein: der Sound saugt gleichsam an den Nerven. Herzschrittfrequenz, fast ohne Variation, hämmert durch die Hallen, legt versteckte Atavismen frei, dringt ganz nach innen auf der Suche nach dem archaischen Kern und erzählt von fernen Existenzen. Man gibt sich ihr hin wie einer Taufe, die „herüberführt“, denn Techno fließt. Und gerade weil hier nichts neu ist, sondern sich nur wie neu anfühlen soll, berührt der Club Berghain in Berlin vor allem denjenigen, der sich auf die älteste Weise berühren lassen will: dem Leben in den Keller steigen, wo man mal laut sein darf, wild und schmutzig. Das Kind im Menschen oder der Urgrund – hier hat beides Platz.

Anflug präexistentieller Erfahrungen auch ohne Drogen? Nur zu natürlich. Wie viele Generationen zuvor probten nicht schon eben diesen Ausstieg? Genaugenommen doch alle. Schrill, grell, exhibitionistisch seit immerhin fast hundert Jahren, da man es aufgab, den horror vacui, die Verzweiflung vor gefühlter Leere, krampfhaft sublimieren zu wollen.

Also schon einmal hier gewesen? Etwa mit Djuna Barnes oder Rolf Dieter Brinkmann? Vielleicht. Heute „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann im Gepäck, aber das ist Zufall. Die Lage bleibt gleich, nur die Formen wandeln sich. Und Techno ist seiner Natur nach wohl so alt wie die Menschheit – unterbrochen von ein paar Jahrhunderten Verfeinerung, als sich das Tier wegducken mußte, weil es niemand sehen wollte. Inzwischen hat es seinen Schrecken verloren. Und gerade das drückt aufs Gemüt.

Das Tier hat seinen Schrecken verloren

Techno als Lebensgefühl, als Zivilisationsstufe, als Refugium und als Literatur: Verbalnarzißmus kompensiert fehlende Inhalte – wo es nichts mehr zu sagen gibt, weil es um nichts mehr geht, kann es nur noch darum gehen, nichts zu sagen, aber genial. Das ist im Grunde übriggeblieben von allen künstlerischen Ambitionen; wir wissen längst, was die Früheren bloß ahnten. Und dieses Bewußtsein findet im Techno sein akustisches Pendant. Sich verlieren in und an der Musik, im Archaischen, um nachgerade „abzuhängen“ im Gewaber von Zeiten, Tönen und Worten. Blues entstand aus Melancholie, Rock aus Aggression, Techno aus dem Übergangsgefühl von orientierungslosem Pseudoprotest in Resignation und Gleichgültigkeit.

Brinkmann war wirklich wütend – um 1970. Die Popkultur ist es nicht, kann es gar nicht sein, denn ihr fehlt buchstäblich die Substanz, die Erfahrung, die geschichtliche Schule, um so etwas wie echte Wut hervorzubringen. Was sie gelernt hat, ist, ihre Gefühle im Leerlauf zu halten, Eltern zu beerben, Mimikry, niemals wirklich ernst zu machen, sondern selbst aus der eigenen Wohlstandsverwahrlosung noch Profit zu schlagen. „Singe den Zorn ...“ – Wie?

Die Popkultur nistet im Spiel, denn daraus ist sie entstanden: aus dem leichtfertigen Umgang mit allem und aus der Banalisierung dessen, was anderen einst existentieller Lebenswert war, man könnte auch sagen heilig. „To a world filled with compromise we make no contribution“, trotzte Brinkmann. Nun, wie soll das gehen? Heute? Er, der schnoddrig-sensible Exzentriker, ein Kind der Asche, sang den Zorn, litt sich daran ab und kaputt. Nie war mehr Gewalt, mehr Fäkalsprache, mehr Haß und Widerwille in einem Werk zu finden als bei ihm: aggressive Verweigerungshaltung. Fluchthelfer Sex und Musik als Synonym für die Verlorenheit in der Welt? Zivilisationswüstenprosa: absurde, endlose Wortketten voll obszöner Leere und sprachlicher Brillanz. Immer auf der Suche nach dem unverwechselbaren Sound, der das Wesen der Dinge schmerzhaft berührt. Brinkmann galt als genial.

Im Berghain, im derzeit „angesagtesten Club der Welt“, wie es heißt, ist Party Programm. Doch unverwechselbar scheint hier niemand. Gegen den ewigen Spießer muß keiner mehr anschreien: die Fronten sind verwischt. Gefeiert wird, wie überall, die eigene Indolenz gegen das Prinzip Stumpfsinn. Denn diese Indolenz rettet Leben: macht kompatibel, berechenbar, schafft Sicherheiten, stiftet sogar Wärme.

Meister Propper ist inzwischen auch nicht mehr allein. Eine ganze Gruppe demonstriert ihren „Mut zum Anderssein“: be cool, be schwul, be Berlin. Die im Ausgehbadeanzug kauft sich ein Eis. Der Achtzehnjährige hockt auf einer Schaukel. Dann reguliert jemand den Baß, der Sound wird härter.

Den Nihilismus endlich als „Glück“ empfinden, weil nur er schöpferisch mache, forderte Gottfried Benn 1952. Wie wahr: sich am Schöpferischen nicht erschöpfen heißt Ruhe finden im Lärm. Und es lag immer im Wesen der Nacht, Zeiten aufheben zu können. Da kommt Sarah Kane. Im Gewühl war sie gar nicht zu sehen: „Ich dachte ich würde nie sprechen jetzt aber weiß ich es gibt etwas Schwärzeres als Begehren“, sagt sie, und dann: „Ich glaube, daß Nihilismus die extremste Form von Romantik ist.“ Sich im Takt bewegend geht sie zu jemandem, der gereizt an seiner Zigarette zieht. Und? „O ich sehne mich so nach dem großen Schmerz. (…) Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig.“

Jean-Paul Sartre steht in der Ecke, schüttelt den Kopf: „Die Menschen. Man muß die Menschen lieben. Die Menschen sind bewundernswert. Ich möchte kotzen – und mit einem Schlag ist er da: der Ekel.“

Intensives, gefährliches Leben hat seinen Preis

Es wird turbulent: Werner Schwab taucht auf, sagt aber nichts, grunzt nur, und zwar gegen Rainald Goetz, der Sätze von sich gibt, wie: „Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde.“ Nostalgisierendes Gerede über die Love Parade, Celebration pur, oder über die Clubs in London, Tokio, New York ... damals. Doch wer will das noch hören? Nun, „Abfall für alle“.

Und da, natürlich, frühreif virtuos um die eigene Kindheit betrogen, endlich, Helene Hegemann ... merkwürdig fahrig, so als wisse sie nicht recht ... Aber warum denn? Leben wird Literatur, wie Literatur Leben wird. Merken wir was? Sie plaudert mit Nick McDonell, der war auch mal siebzehn. Wer erinnert sich? 2002, „Zwölf“, das Buch, das mit dem Satz begann: „White Mike ist dünn und blaß wie Rauch.“ Dann wurde viel gekokst, viel gechillt, ein bißchen gevögelt, und schließlich geschossen.

Ja, was denn sonst? Es gibt kein Ende im Entwicklungsgeäst, sondern immer nur neue Verzweigungen, eben auch dort, wo vorher vielleicht noch keine waren, wenn Neues Altes überwächst. Und intensives, gefährliches Leben hat natürlich seinen Preis: Georg Heym (1887–1912, Unfall), Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975, Unfall), Werner Schwab (1958–1994, vermutlich Freitod), Sarah Kane (1971–1999, Freitod).

Es ist spät, beziehungsweise früh. Erst am Morgen findet die Nacht sicheren Ausdruck. Der Sound ist in jede Faser gefahren, der Pulsschlag wird schneller, die Luft dünner und die Bewegungen ekstatischer. Draußen sortiert der Wächter noch immer. Der Andrang ist ungebrochen. Strenge Leibesvisitation. Man ahnt, warum. Eigentlich müßte allmählich Müdigkeit aufkommen ... Aber wohin? Also bleiben. Denn das Berghain schließt nie.

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