© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Bildungseuphorie
Karl Heinzen

Jugendliche, die eine Lehre aufnehmen, verfügen heute mehrheitlich nicht über die Grundqualifikationen, die dafür eigentlich erforderlich wären. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) initiierte Umfrage, an der sich über 15.000 Unternehmen beteiligten. Beklagt werden insbesondere mangelhafte Fähigkeiten der Berufsanfänger in Rechtschreibung, Lesen und Rechnen. Darüber hinaus sei ihre soziale Kompetenz etwa hinsichtlich Disziplin, Teamfähigkeit und Pünktlichkeit unterentwickelt. 54 Prozent der Firmen bemühen sich, derartige Defizite durch Nachhilfeangebote in eigener Regie zu mildern. 31 Prozent der Betriebe greifen zusätzlich auf die Unterstützung der Arbeitsagenturen zurück. Die Chancen, daß diese Selbsthilfemaßnahmen der Wirtschaft fruchten, betrachtet der DIHK jedoch mit Skepsis. Hier stünden letztlich Eltern und Schulen in der Pflicht, die sie nicht an die Unternehmen delegieren dürften.

Der Versuch, die Verantwortung für die elementare Qualifizierung der Auszubildenden wieder von den Unternehmen abzuwälzen, ist verständlich, da diesen dadurch Kosten entstehen, die früher nicht einzukalkulieren waren. Allerdings läßt sich das Rad der Geschichte auch hier nicht zurückdrehen. In einer freien Gesellschaft kann der Staat Heranwachsenden nur unverbindliche Bildungsangebote unterbreiten, um ihnen für ihren weiteren Lebensweg vielfältige Optionen offenzuhalten. Was sie davon persönlich für wichtig erachten, bleibt ihrer freien Wahl überlassen. Es ist zu respektieren, wenn sie sich dafür entscheiden, daß vermeintliche Kernkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nicht dazugehören. Unternehmen, die dies anders sehen, müssen die Nachwuchskräfte, die sie anwerben wollen, mit entsprechenden Anreizen dafür gewinnen, sich auf ihr Anliegen einzulassen, entsprechende Ausbildungsangebote bereitstellen und die Kosten dafür tragen. Schließlich sind sie es auch, die später den Nutzen aus wunschgemäß qualifizierten Mitarbeitern ziehen.

Darüber hinaus sollte über aller Bildungseuphorie nicht außer acht gelassen werden, daß junge Menschen der Wirtschaft nicht bloß in der Rolle des Arbeitnehmers, sondern auch in jener des Konsumenten gegenübertreten. Dabei verleitet ein Übermaß an Wissen oder gar Persönlichkeitsbildung oftmals zu einem Mißbrauch der Konsumentensouveränität. Wer leichtfertig der Bildung das Wort redet, unterminiert auf zahlreichen Märkten die Chance, mit Hilfe künstlicher Bedarfsweckung Produkte abzusetzen.

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