© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

CD: Trip-Hop
Im Getöse
Michael Wiesberg

Sie sind so suggestiv-melancholisch und innovativ in ihrer Musik wie seit eh und je: Massive Attack, die Trip-Hop-Band aus dem englischen Bristol, die neben Portishead – die freilich direkt von „Massive Attack“ beeinflußt wurden – wohl zu den tonangebenden Bands ihres Genres gehören. Dazu zählen auch anspruchsvolle Musikvideos, die Massive Attack ähnlich detailversessen produzieren wie ihre Alben.

Für Schnellschüsse sind die Soundkünstler – das sind heute vor allem Robert Del Naja und Grant Marshall – nicht zu haben. In der Regel liegen gut drei oder mehr Jahre zwischen ihren Produktionen. So ist es auch diesmal: Sieben Jahre nach ihrer letzten Einspielung „100th Window“ (2003) erschien jetzt ihre neue Scheibe „Heligoland“ (Virgin Records). Der bemerkenswerte Titel, der sich direkt auf die deutsche Nordseeinsel Helgoland bezieht, könnte stellvertretend dafür stehen, daß sich Massive Attack als Fels im Klanggetöse verstehen.

Auch diesmal haben Massive Attack wieder eine Reihe von Gastsängern ins Studio geholt und neue Möglichkeiten ausgelotet. Mit dabei sind zum Beispiel der Reggae-Sänger Horace Andy, Damon Albarn (Blur, Gorillaz), Tude Abebimpe (TV On the Radio), Guy Garvey (Elbow) oder die Trip-Hop-Größe Martina Topley-Bird. Die Vokalpassagen sind in genau ausgetüftelte Sound-Landschaften eingebettet, an deren Details Robert Del Naja minutiös arbeitet, was in der Summe den typischen Massive-Attack-Sound ergibt. Bereits das Auftaktstück „Pray for Rain“ zieht den Hörer mit seinem langsamen, groovenden Beats in einen Bann, der ihn bis zum Ende nicht mehr losläßt.

Kein Zweifel: Die Bristoler Musiker haben in den 20 Jahren ihres Bestehens nichts an Innovationsfähigkeit eingebüßt. 1990 erschien mit „Daydreaming“ eine erste Single, der sich 1991 ein Album anschloß, das Massive Attack mit einem Schlag bekannt machte. „Blue Lines“, eine Mischung aus Hip-Hop, Elektro und Soul, gilt bis heute als eines der innovativsten Alben überhaupt. Auf ähnlichem Niveau folgte 1994 das Album „Protection“; dann wurde der Sound auf „Mezzanine“ (1998) deutlich düsterer. Hier wurden zum ersten Mal E-Gitarren eingesetzt; Massive Attack setzten zweifelsohne neue Akzente, was unter anderem dazu führte, daß Attack-Mitgründer Andrew Vowles die Band verließ.

Del Naja und Marshall machten indes auf der von „Mezzanine“ vorgegebenen Linie weiter, was sich auch auf dem Folgealbum „100th Window“ niederschlagen sollte: komplexe elektronische Soundlandschaften und eine melancholisch-düstere Atmosphäre, gepaart mit dem Gesang von zum Beispiel Sinéad O’Connor und Horace Andy. Der eingeschlagene Weg erwies sich als erfolgreich, zählt doch das US-Musikmagazin Rolling Stone sowohl „Blue Lines“ als auch „Mezzanine“ zu den „500 besten Alben aller Zeiten“.

Der Bandname Massive Attack wird nicht, wie es scheinbar naheliegt, mit „Flächenbombardement“ übersetzt, sondern als „Publikumsattacke“; „massive“ soll auf Patois nämlich „Publikum“ bedeuten. Patois ist eine auf Jamaika, Costa Rica und Panama verbreitete Kreolsprache mit englischen Wurzeln. Sie wird auch in Kanada, der Dominikanischen Republik, dem Vereinigten Königreich und in den USA gesprochen.

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