© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Der Fluch Katyns
Polen im Schockzustand: Mutmaßungen über die Ursache des Flugzeugabsturzes – stand der erfahrene Pilot unter massivem Druck?
Christian Rudolf / Lubomir T. Winnik

Dieser verfluchte Ort, Katyn“, entfuhr es dem polnischen Ex-Präsidenten Aleksander Kwaśniewski im Fernsehsender TVN 24, auf die neuerliche Tragödie vom Samstag, 70 Jahre nach der ersten, angesprochen. Katyn. Ein Trauma im polnischen kollektiven Bewußtsein, in dieser ohnehin so manisch geschichtsbewußten Nation. Katyn: Einer der Orte, an denen im Frühling 1940 auf Befehl der Sowjetführung die polnische Elite ausgerottet wurde – etwa 22.000 polnische Offiziere, Beamte, Intellektuelle, Lehrer, Professoren, Geistliche und Kulturschaffende wurden vom NKWD mit Kopfschüssen ermordet.

Und nun das. Die Maschine des polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, ein Flugzeug vom sowjetischen Typ Tupolew 154M, mit Spitzenvertretern der III. Republik an Bord, auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung in Katyn, fliegt in den russischen Nebel vor Smolensk und stürzt ab. Keiner der 96 Insassen überlebt das Brandinferno.

Polen ist seit der grauenhaften Nachricht vom 10. April im Schockzustand. Zum zweiten Mal verlor die große Kulturnation an Weichsel und Warthe einen bedeutenden Teil ihrer Elite – ausgerechnet im Zusammenhang mit Katyn. Ob in der Hauptstadt Warschau, in Danzig, im östlichen Rzeszów oder in Breslau: die Menschen treibt es in Erschütterung und Trauer hinaus auf die Straße, um gemeinsam zu gedenken – wie in jenen Apriltagen vor fünf Jahren, als der polnische Papst und geistige Übervater Polens, Johannes Paul II., starb.

Die gesamte Militärführung Polens ist umgekommen

An Bord der Unglücksmaschine befanden sich außer Staatspräsident Lech Kaczyński und seiner Frau Maria Kaczyńska die gesamte oberste Militärführung des Heeres, der Luftwaffe, der Marine sowie der Spezialeinheiten, darunter Generalstabschef Franciszek Gągor, der als aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Nato-Oberbefehlshabers galt. Weiter fanden höchste Repräsentanten von Parlament und Staatsverwaltung einen plötzlichen Tod, so drei stellvertretende Vorsitzende von Sejm und Senat, Spitzenbeamte aus der Kanzlei des Präsidenten, der Chef des nationalen Sicherheitsrats, der Chef der polnischen Zentralbank, der Vorsitzende der polnischen Stasi-Unterlagen-Behörde Janusz Kurtyka und der Sekretär des Rates für den Schutz der Erinnerung an Kampf und Martyrium, Andrzej Przewoźnik, der die Feierlichkeiten in Katyn erst organisiert hatte.

Darüber hinaus verunglückten mehr als ein Dutzend Parlamentarier und Fraktionschefs, darunter auch der Vizefraktionsvorsitzende der Regierungspartei PO, Grzegorz Dolniak (JF 44/06), sowie ein Bischof und mehrere andere katholische, evangelische und orthodoxe Militärseelsorger. Die Katastrophe hat eine klaffende Lücke in die Führung des Landes gerissen.

Doch wie konnte es überhaupt zu der Tragödie im Landeanflug auf den ehemaligen Militärflughafen Smolensk-Nord kommen? Die Frage nach der Schuld steht während der einwöchigen Staatstrauer verständlicherweise im Hintergrund, doch sie wird drängender werden. Nach allen öffentlich verfügbaren Informationen läßt sich ein technisches Versagen ausschließen. So kommt menschliches Versagen in Betracht.

Nur Stunden nach dem Absturz wurde gemeldet, wegen des dichten Nebels in der fraglichen Gegend, keine 20 Kilometer von Katyn entfernt, hätten Fluglotsen vom Tower die Piloten mehrmals eindringlich vor einer Landung gewarnt und statt dessen ein Ausweichen nach Moskau oder Minsk empfohlen. Ebenso schnell kam die Rede auf einen Pilotenfehler. Doch sollte der mit 2.000 absolvierten Flugstunden als erfahren geltende Pilot Arkadiusz Protasiuk wirklich so verwegen gewesen sein, im Alleingang auch nach drei mißglückten Anflügen ein viertes Mal zu versuchen, die Maschine zu landen? Bei schlechtem Wetter mit Sichtweiten von weniger als 400 Metern?

Nach Einschätzung der deutschen Pilotenvereinigung Cockpit deutet beim Absturz vor Smolensk viel auf eine Beeinflussung des Piloten hin. Bis zur Auswertung der Blackbox könne man zwar nur über die Absturzursache spekulieren, sagt Cockpit-Sprecher Jörg Handwerg am Montag gegenüber Focus-online. Doch vier Landeanflüge seien „sehr ungewöhnlich“.

Beerdigung auf der Wawel-Burg in Krakau

Handwerg, selbst erfahrener Flugkapitän, glaubt, der Pilot der Unglücksmaschine habe „unter massivem Druck“ gestanden, die Maschine unter allen Umständen bei Katyn zu landen. „Anders kann ich mir ein solches Verhalten nicht erklären. Der Präsident war an Bord, der Termin wichtig.“

In Polen gibt es ein Sprichwort: Wo der Mensch hastet, freut sich der Teufel. In der Tat hätte Kaczyński die Gedenkzeremonie verpaßt, wäre das Flugzeug nach anderswo ausgewichen. Erst am Donnerstag der Osterwoche fand an der Gedenkstätte im Wald von Katyn eine so bewegende wie historische Feier statt, an der mit Wladimir Putin erstmals ein russischer Regierungschef teilnahm; Kaczyński war nicht eingeladen, wohl aber der polnische Premier Donald Tusk. Beide waren einander nicht grün, Kaczyński, der Präsident, düpiert. Um so wichtiger mußte es ihm scheinen, daß mit der Veranstaltung am Samstag alles glatt geht.

Die Särge mit den Leichen des Präsidenten und seiner Frau sind am Dienstag in der Kapelle des Präsidentenpalasts für die Öffentlichkeit aufgebahrt worden. Unter großer Anteilnahme des Volkes wurde bereits am Sonntag der Sarg des Präsidenten durch Warschau gefahren, nachdem Kaczyńskis sterbliche Überreste in Moskau als erste identifiziert werden konnten. Die Identifikation vieler übriger Opfer dauerte bis Redaktionsschluß noch an, noch nicht einmal alle Toten konnten aus den im Wald verstreuten Trümmern der Tupolew geborgen werden. Am Sonntag um 14 Uhr soll das Ehepaar Kaczyński auf dem Wawel in Krakau beerdigt werden, so haben es die nächsten Angehörigen entschieden – in der Krypta neben den polnischen Königen.

Foto: Blumen und Kerzen vor dem Präsidentenpalais in Warschau, Präsident Lech Kaczynski: Die Frage nach der Schuld an dem verheerenden Unglück steht während der einwöchigen Staatstrauer im Hintergrund

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