© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Schlichtungsrunde mit Sarrazin
Hartz-IV-Debatte: In Berlin durfte der ehemalige Finanzsenator zur Freude des Publikums einmal mehr seine provokanten Thesen erläutern
Christian Dorn

Ein halbes Jahr ist vergangen, seit Berlins vormaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin durch ein Interview mit pointierten Äußerungen zur Wirtschafts- und Migrationspolitik in der Kulturzeitschrift Lettre International  eine deutschlandweite Debatte entfachte (JF 42/09). Zur „Belohnung“ wurden Sarrazins Aufgaben als Bundesbank-Vorstand beschnitten, und die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung ein.

In der vergangenen Woche trat der SPD-Politiker, mittlerweile vom Vorwurf der Volksverhetzung entlastet, im Kulturkaufhaus Dussmann an der Berliner Friedrichstraße abermals vor die Öffentlichkeit. Entsprechend ist der Andrang: größer als bei allen vergleichbaren Veranstaltungen, die jemals hier stattgefunden haben.

Anlaß ist die Buchvorstellung von Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin der taz. Sie präsentiert ihr Buch „Hurra, wir dürfen zahlen“, in dem es um den angeblichen „Selbstbetrug der Mittelschicht“ geht. Während die vorher abgehaltene Pressekonferenz weitgehend ohne Widerspruch blieb, ist der Abend im Kulturkaufhaus als Streitgespräch angekündigt. Herrmann: „Ich arbeite an der Konfrontation, deswegen treffe ich heute Sarrazin.“ Tatsächlich ähnelt der Abend dann eher einer Schlichtungsrunde.

Verantwortlich dafür ist auch Moderator Wolfgang Herles, der vor allem der Koketterie zugeneigt scheint. Dies zeigt sich bereits in der Eröffnung, als er Herrmann, die einst Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne) war, wie folgt vorstellt: „Sie haben ja einen linken Hintergrund, das ist ja keine Unterstellung.“ Das sieht Herrmann allerdings anders: „Doch, denn die Grünen sind ja nicht links.“ Dabei könnten die Thesen von Herrmann direkt Eingang in das Parteiprogramm der Linkspartei finden. So fordert sie von der Mittelschicht, diese solle sich mit der Unterschicht verbünden, um gegen die „sogenannten Eliten“ zu kämpfen. Als vordringliche Mittel hierfür sieht sie eine deutliche Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Erbschaftsteuer. Ebenso sieht es Sarrazin, der lediglich bei der Kapitalertragssteuer Widerspruch anmeldet, da die Dax-Unternehmen zu einem Großteil ausländischen Eigentümern gehörten.

Auf Herles’ Frage, ob Deutschland noch eine Aufsteigergesellschaft sei, erwidert Sarrazin, Gerechtigkeit sei „nicht herstellbar“ – und erntet den ersten Szenenapplaus. Herrmann dagegen will zurück zur „Verteilungsgerechtigkeit“, die derzeit tabuisiert werde. Sarrazin hält indes das Modell der Sozialversicherung für obsolet, weil das Prinzip der Gegenleistung nicht mehr gewährleistet sei.

Etwas Stimmung kommt auf, als Herrmann dem Ex-Senator vorwirft, die Unterschicht zu verachten, und auf „zahllose Studien“ verweist, die belegten, „daß Hartz-IV-Empfänger arbeiten wollen“. „Natürlich“, entgegnet Sarrazin, „weil sie sonst kein Geld bekommen.“ Ohnedies sei ein Drittel von ihnen nachweislich arbeitsscheu. Auch der Armutsbegriff behagt ihm nicht. Die sogenannte Hartz-IV-Armut sei in Wirklichkeit eine „Sozialisations-, Verhaltens- und Bewegungsarmut“. Beleg hierfür seien die jährlichen Einschulungsdaten, denen zufolge Fettleibigkeit und motorische Mängel besonders dort zu verzeichnen seien, wo ein Fernseher im Kinderzimmer steht. Als Beispiele nannte Sarrazin den sozial schwierigen Berliner Stadtteil Wedding (Fernseher für den Nachwuchs in 45 Prozent der Haushalte) und das eher bürgerlich geprägte Stadtviertel Westend in Charlottenburg (TV-Quote: vier Prozent). Sarrazin fügt an: „Menschen können vielleicht nicht darüber entscheiden, ob sie Arbeit bekommen, aber ob sie morgens im Bett liegen bleiben oder ob sie aufstehen und ihren Kindern ihr Schulbrot machen.“

„Sehen Sie ins Statistische Jahrbuch“

Die entscheidende Rolle der Eltern verdeutlicht er am eigenen Beispiel: Das Verdienst seiner Eltern sei es gewesen, „daß sie einem faulen Schüler zu einem mittelmäßigen Abitur verholfen haben“.

Bis hier hat Sarrazin wiederholt Beifall erhalten. Unmut ertönt erst, als er darlegt, deutsche Durchschnittsfamilien gäben für Nahrungsmittel genausoviel Geld aus wie Hartz-IV-Empfänger. Sarrazins Reaktion darauf: „Sehen Sie ins Statistische Jahrbuch! Die Fakten stimmen alle.“ Das nützt aber nichts. Im Anschluß an die Veranstaltung tritt eine Frau an ihn heran und ruft entrüstet: „So zynisch wie Sie sind: Daß das noch erlaubt ist!“

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