© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Das Bernsteinzimmer verrottet in der Erde
Nach einer bisher unveröffentlichten Zeugenaussage liegt der Kunstschatz im Gewölbe der Steindammer Kirche in Königsberg versteckt
Stephan Komp

Als Alfred Rohde, Kurator der Königsberger Kunstsammlung, Ende der 1920er Jahre von Hamburg nach Königsberg kam, bestand seine erste größere Arbeit in einer gründlichen Erforschung der Stadtgeschichte. Bei dieser Gelegenheit hatte er mit Hilfe der archivarischen Quellen auch die alten unterirdischen Anlagen des Schlosses, insbesondere der Kirchen, einer Untersuchung unterzogen.

Nach dem 28. Januar 1945, als Königsberg zur Festung erklärt wurde, arbeiteten SS-Leute der Gruppe Böhme und mehrere französische, polnische und russische Kriegsgefangene an der Steindammer Kirche am Steindamm. Ständig fuhren dort Pferdefuhrwerke Erde und mit Ziegelsteinen vermischten Bauschutt weg. Ein Königsberger Passant fragte die Arbeiter, was diese während der Festungszeit da taten, und ihm wurde gesagt: „Wir errichten hier einen Feuerlöschteich, weil in der Innenstadt kein Wasser zum Löschen vorhanden ist.“ Wasser war jedoch sowohl im nahen Schloßteich als auch aus der Pregel in Hülle und Fülle vorhanden, merkt bereits General Otto Lasch, Kommandant der Festung Königsberg. in seinem Werk „So fiel Königsberg“ fragend an. 

In Wirklichkeit legten die Arbeiter das bei den Renovierungsarbeiten im Jahr 1752 verschüttete und von Max Karl in seiner Inauguraldissertation 1912 erwähnte Grabgewölbe unterhalb der Steindammer Kirche frei. Dieses Grabgewölbe wurde der Standort des lange gesuchten „B III“. Der Bunker I war der Hochbunker hinter der Kant­schule auf der Oberlaak, Bunker II war der von General Lasch. BIII allerdings stand für den Bunker Steindamm, denn III stand nicht für die Zahl III, sondern folgte der russichen Bezeichnung nach dem kyrillischen Buchstaben „Ш“ für „Штайндамм“. Ronny Kabus veröffentlichte in seinem Band „Ruinen von Königsberg“ (Husum 1992) ein Bild von der Ruine der Steindammer Kirche aus dem Jahre 1955. Aufgrund des bereits 0,7 Meter tieferen Hallenbodens gegenüber dem Straßenniveau und der zusätzlichen Überdeckung der Steinmassen der stark beschädigten Hallenkirche kam so eine natürliche Überdeckung von Schuttmassen von sechs Metern zustande. Die britischen Historiker Cathrine Scott-Clark und Adrian Levy schrieben über das Versteck des Bernsteinzimmers, es sei „in a bunker under a city church near Steindamm“, doch irrten beide über den angegebenen Standort an der Ecke Steindammer Straße und Lange Reihe.

Kisten aus dem Schloßhof tauchten im Gewölbe auf

Ein Überlebender, Helmut Komp, Alter Graben 26 aus Königsberg, berichtet dazu: Sein Freund, wohnhaft Alter Graben 27b, Sohn eines Schusters, war mit 16 Jahren in die Waffen-SS eingetreten. Er hatte sich bei den Kämpfen mit den Truppen der 3. Weißrussischen Front unter Marschall Wassilewski unter einem Haufen Kohlen in einem Keller in der Sackheimer Straße überrollen lassen und hoffte, so zu überleben. Im April 1946, ein Jahr nach der Kapitulation der Pregelstadt, fand ihn Komp dort und erfuhr von ihm folgendes: „Wenn du Bernstein umsetzen willst, um an Nahrung zu gelangen, dann mußt du in die Steindammer Kirche in das Loch von der Seite her hineinkriechen!“ Das tat Komp und kroch mit seinem Bruder Manfred tief in die besagte Öffnung an der Steindammer Kirche hinein.

An der Apsis stand ein Museumstuhl mit einem Draht, welcher offenbar Teil einer Sprengfalle gewesen war. Auf dem Stuhlrücken war ein Prägeschild, welches das Königsberger Schloßmuseum als Besitzer auswies. Aus dem Ledersitz hatte sich ein Sowjetsoldat wohl mit einem Seitengewehr das Leder herausgeschnitten und damit die von der SS angelegte Sprengfalle ausgelöst. Darüber berichtet auch Elisabeth Schulz-Semrau in ihrem Buch „Drei Kastanien aus Königsberg“ (Leipzig 1990). Als beide Brüder in das tiefe Loch hineinkrochen, „roch es deutlich nach Museum“, so Komp. Es ging mindestens vier Meter tief hinunter. Größtenteils war das Gewölbe zusammengebrochen, aber am Ende der Gewölbebögen sahen die Brüder plötzlich die gleichen Kisten düster herausragen, welche Komp bereits als Meldegänger der Wasserschutzpolizei, Amt 8, am 4. April 1945 auf dem Königsberger Schloßhof hatte stehen sehen und welche durch Rohde ausschließlich für den Zweck des Transports des Bernsteinzimmers bereits 1944 angefertigt worden waren. Komp und sein Bruder konnten auf abenteuerlichem Weg 1947 aus der von der sowjetischen Militärpolizei abgeriegelten Stadt entfliehen und hatten aufgrund der seltsamen Todesfälle um die Mitwisser über das Schicksal des Bernsteinzimmers bis in die heutigen Tage Angst, über ihren Fund zu berichten.

Der Kurator Rohde galt als Prototyp des gewissenhaften preußischen Beamten. Das Bernsteinzimmer wurde Ende 1941 an ihn übergeben und von ihm im Königsberger Schloß im dritten Obergeschoß untergebracht. Bereits 1943 wurde es das erste Mal abgebaut und in Kisten verpackt. Der Spiegel-Journalist Erich Wiedemann zitiert 2000 die Aussage des Königsberger Oberbürgermeister Helmuth Will aus der Gefangenschaft: „Der Bernstein und das Bernsteinzimmer waren für Rohde das Wichtigste auf der Welt. Wenn es fortgebracht worden wäre, wer anders als Rohde hätte es begleitet.“

Auch wenn es wilde Theorien über einen Abtransport gegeben hat, bis hin zur Behauptung des Gauleiters Erich Koch, das Bernsteinzimmer sei mit der „Wilhelm Gustloff“ untergegangen, konnte es die Festung Königbergs 1945 nicht mehr gefahrlos verlassen. Später immerhin hat der lebenslänglich in Warschau inhaftierte Koch erzählt, die Kisten seien in einem Bunker unter der römisch-katholischen Kirche von Ponarth (südlicher Stadtteil Königsbergs) versteckt worden. Zur Tarnung seien über dem Bunker Bomben gezündet worden. Auch wenn die Kirche zu Ponarth lutherisch war, dürfte vielleicht zur Steindammer Kirche eine Analogie erkennbar werden. Zumindest ist die beschädigte Kirche im April 1945 durch Sprengladungen und nicht durch Bomben und Granaten zerstört worden.

Der Kurator Rohde nahm das Geheimnis mit ins Grab

Nachdem die Sowjets im Mai 1945 die Macht übernommen hatten, wurde Rohde dem Archäologie-Professor Oberst Alexander Jakowlewitsch Brjussow (1885–1966) unterstellt, der den Auftrag hatte, nach den verschollenen Kunstschätzen zu suchen. Zu Essen bekam Rohde unregelmäßig im russischen Offizierskasino, welches im notdürftig reparierten Hotel Berliner Hof, Steindamm Nummer 70/71, untergebracht war. Dazu mußte er an der Ruine der Steindammer Kirche vorübergehen. Darüber mutmaßt übrigens schon Juri Iwanow in „Von Kaliningrad nach Königsberg“ (Leer, 1991). Es wäre ihm ein leichtes gewesen, beim Vorbeigehen zu sagen: „Suchen Sie da drüben!“ Doch Rohde hat es vermutlich aufgrund seines preußischen Beamtenethos, aber letztlich auch aus Verbitterung über die Barbarei und Unmenschlichkeit der Sowjets gegenüber den Deutschen nicht getan. Alfred Rhode ist am 17. Dezember 1945 in seiner Königsberger Wohnung in der Beeckstraße 1 an Hungertyphus gestorben und hat das Geheimnis über die Steindammer Kirche mit ins Grab genommen. Seine Frau Ilse verhungerte ebenfalls wenig später.

Die Ruinen der Steindammer Kirche blieben bis zum Bau des Lenin-Prospekts unverändert. 1968 wurden durch eine Pioniereinheit die letzten noch stehenden Häuserruinen der deutschen Bewohner abgerissen: „Es war ein Riesenspaß“, zitiert Wiedemann den Oberst Awenir Petrowitsch Owsjanow. Heute steht auf dem mittelalterlichen Grabgewölbe der Kirche ein stalinistischer Betonklotz mit einer Apotheke. Der ehemalige Steindamm wurde in der Breite erweitert, so daß der in Lenin-Prospekt umbenannte Steindamm mindestens vier Meter über die früheren Kirchenfundamente führt. Die für den Straßen- und Hausbau erforderlichen Gründungsarbeiten erreichten nie die Tiefe der Scheitelkappen des alten Grabgewölbes.

Auch wenn die Sowjets den Standort doch erfahren haben sollten, wie es nicht nur der ehemalige russischen Präsident Boris Jelzin 1991 andeutete („Ich weiß, wo es ist“), wurden am bisherigen Ort der Steindammer Kirche keine Grabungen vorgenommen. Vielleicht wäre eine weitere Blamage zu groß gewesen, vor allem wenn es dazu des Abrisses von Wohnhäusern und des Aufrisses einer Hauptverkehrsstraße inmitten Kaliningrads bedurft hätte. Bernstein hat zudem die Eigenschaft, zu verwittern. Politisch dürfte mit dem neuen duftenden Bernsteinzimmer im Katharinenpalast, dessen Rekonstruktion von der Deutschen Ruhrgas AG mit 3,5 Millionen US-Dollar gesponsert wurde, auch die Notwendigkeit abhanden gekommen sein, dem wahren Bernsteinzimmer nachzuspüren.

Einst das großzügige Geschenk Friedrich Wilhelm I. an Zar Peter I., Zeichen des friedlichen Bündnisses zwischen Deutschen und Russen, steht dieses noch heute in den Kisten des Alfred Rohde, für alle Ewigkeit bewacht von den toten Urvätern Ostpreußens, im alten Grabgewölbe der Steindammer Kirche. Sie ist die älteste der Königsberger Kirchen, 1256 erstmalig datiert, die von den Deutschordensrittern als Taufkirche für die bekehrten Prußen vor der ersten Siedlung des 13. Jahrhunderts angelegt wurde.

Foto: Das rekonstruierte Bernsteinzimmer im Katharinenpalast in Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg: Das Original wird bewacht von den toten Urvätern Ostpreußens, Lenin-Prospekt mit heutiger Bebauung am Ort der Steindammer Kirche: Vier Meter über dem früheren Kirchenfundament, Steindammer Kirche mit Lageplan: 1945 gesprengt

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