© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Auf der Suche nach Entschleunigung
Neue Landlust: Immer mehr Stadtbewohner träumen davon, der Hektik des Alltags zu entfliehen und sich zurückzuziehen
Hinrich Rohbohm

Vom Berliner Hauptbahnhof sind es mit dem Zug gut 45 Minuten: raus aus der Großstadt, rein ins Landleben. Dann ist Grüneberg erreicht, ein 1.240-Seelen-Ortsteil der Gemeinde Löwenberger Land, 20 Kilometer nördlich der Bundeshauptstadt gelegen. Alle Stunde berücksichtigt der Schienenverkehr das Dorf als Haltestation. Kein Taxi steht vor den Gleisen bereit, keine Busse warten auf Fahrgäste, keine Abgase und hupende Autos. Stille. Landluft.

500 Meter weit ist das so. Dann brausen plötzlich Möbeltransporter über frisch geteerte Wege. Sie fahren die Häuser des neuen auf einem grünen Hügel liegenden Wohnparks an. 160 Baugrundstücke gibt es hier, mehr als die Hälfte ist bereits verkauft. Einige haben ihr neues Eigenheim bereits gebaut, nutzen die Frühlingssonne, um den noch kahlen Garten herzurichten. Trotz Wirtschaftskrise: „Der Trend zum eigenen Heim auf dem Land hält an, wenn auch etwas verhaltener“, meint Klaus Oertel, der den neuen Wohnpark in Grüneberg vermarktet.

„Der Preis für das eigene Haus entspricht hier gerade einmal einem Drittel der mittleren Preislage von Berlin“, sagt er. Viele wollten auf dem Land ihren Lebensabend verbringen. „So mancher kauft jetzt bereits ein Grundstück auf Vorrat, um sich hier niederzulassen, wenn er in den Ruhestand geht“, schildert der Geschäftsmann. Hinzu kommen junge Familien. Für nicht wenige von ihnen sei die richtige Schule für ihre Kinder ausschlaggebend. Eltern zögen eine kleine Grundschule auf dem Dorf den oft mit Migrationsproblemen belasteten Bildungseinrichtungen mancher Stadtteile Berlins vor, meint Oertel.

„Ruhe“, nennt Bernd Witkowski den Grund, warum er vor sechs Jahren von Berlin-Reinickendorf gemeinsam mit seiner Frau nach Grüneberg gezogen ist. Der 55 Jahre alte Werkzeugmacher arbeitet nach wie vor in Berlin, pendelt nun mit seiner schwarzen Corvette zwischen neuem Haus und Arbeitsstätte. „Kein Problem“, sagt er. Über Bundesstraße und Autobahn bewältigt er die Strecke in dreißig Minuten. Nach Feierabend genießt er das Leben im Grünen, richtet seinen Garten her.

Das Verhältnis zu den neuen Nachbarn ist gut, die Witkowskis haben bereits zahlreiche Kontakte zu anderen Zuzüglern und Einheimischen aufgebaut. „Erst kürzlich haben wir ein großes Grillfest gefeiert“, erzählt er. Nahezu alle aus der neuen Wohnsiedlung seien dabeigewesen.

Es ist der Schritt heraus aus der Anonymität, der Hektik des Großstadtlebens, hinein in Natur und Heimeligkeit, die Flucht in Orte der Ruhe und Entschleunigung. Trotz der angespannten wirtschaftlichen Lage und trotz Wegfalls der Eigenheimzulage scheint der Trend sich fortzusetzen.

„Das Gebäude war eine Ruine“

Selbst eingefleischte Großstädter begeben sich ins Landleben, zumindest in der Urlaubszeit oder zur Naherholung am Wochenende. „Wir sind bis Oktober ausgebucht“, sagt Johann Brüning vom Hof Grüneberg. Gemeinsam mit seiner Frau Wendy hatte er den Bauernhof vor drei Jahren eröffnet. „Die Gebäude waren eine einzige Ruine“, erinnert er sich an den damaligen Zustand des Hofes.

Heute sind hier mehr als zwanzig Pferde beheimatet, laufen Ziegen, Gänse und Schweine umher, genießen Touristen ihre Ferien bei Reitunterricht, Streichelzoo, frischen Eiern und Landluft. „Einige wollen auch richtig im Heu schlafen“, sagt Brüning, der im Alltag als Arzt für eine Berliner Arzneimittelfirma arbeitet. Auch er pendelt, genießt das Landleben nach Feierabend und an den Wochenenden. Den Betrieb führt seine Frau, die neben ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung auch gelernte Reitlehrerin ist.

„Früher hatten wir hier viele solcher Bauernhöfe“, erinnert sich eine bereits in Grüneberg geborene Rentnerin. Doch durch die Enteignungen zu DDR-Zeiten habe sich das Dorfleben verändert, es sei einsam geworden. „Jetzt kommen ja langsam wieder neue Leute her“, stellt auch sie fest. „Aber leider sind sie in unser dörfliches Leben nicht sehr eingebunden“, beklagt die Frau.

Beispiele wie Grüneberg zeigen, wie sich die gesellschaftlichen Strukturen ländlicher Orte in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben. Landleben ist zur Mode geworden, steht zunehmend für Nachhaltigkeit und gehobene Lebensqualität. Die Landwirtschaft wird zur Touristenattaktion, der klassische Bauer zur Rarität. 

„Wir kommen hier zwar mit den Zugezogenen ganz gut klar, aber manchmal vermisse ich da das Verständnis für unsere Landwirte“, gibt Gerd Winkelmann zu verstehen, daß das traditionelles und neues Landleben keineswegs immer konfliktfrei abläuft.  Der 78jährige lebt in Fischerhude, einem in der Wümme-Niederung des Landkreises Verden liegenden Ort westlich von Bremen. „Früher war hier fast jeder Bauer, heute sind es vielleicht noch zehn“, sagt er.

Auch er war früher Landwirt. Seinen Hof hat er inzwischen seinem Sohn überschrieben. „Damals war unser Betrieb noch direkt im Ort“, erzählt er. Der Sohn hat ihn inzwischen „ausgelagert“ – „besser so“, meint der Senior. Denn nicht jeder habe Verständnis für die Landwirte mit ihren schweren Maschinen und dem damit verbundenen Lärm. „Leben wollen sie alle hier, aber wenn sie sich in ihrer Ruhe gestört fühlen, wird gleich rumgemeckert“, kritisiert Winkelmann das Verhalten einiger Neubürger.

„Erst letzte Woche hat ein Anwohner einen Bauern im Ort angezeigt“, erzählt er. Dem betreffenden Landwirt war die Nichteinhaltung der Mindesthöhe einer Viehstallabsperrung zum Verhängnis geworden. Einen landwirtschaftlichen Betrieb könne man im Ortskern kaum noch führen. Das sei früher anders gewesen. Seine Augen leuchten, wenn er von früher spricht – damals, als er ein Junge war. Das war die Zeit, in der die sich im Ort niederlassenden Künstler noch „bettelarm“ waren. Vor hundert Jahren waren sie nach Fischerhude gekommen, begründeten eine bis heute erhalten gebliebene Künstlerkolonie.

Struktureller Wandel macht sich bemerkbar

Den Maler Otto Modersohn hatte er noch persönlich gekannt. „Ich habe ihm immer Eier gebracht.“ Weil die Künstler meist nicht bezahlen konnten, seien die Bauern mit Bildern entlohnt worden. „Viele hier haben heute noch Kunstwerke in ihren Wohnzimmern“, sagt Winkelmann, der ebenfalls ein Werk der späteren Berühmtheit erhalten hatte. Dessen Sohn Christian – ebenfalls Maler – lebte bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr ebenfalls in Fischerhude. Und auch Georg Friedrich Prinz von Preußen, der derzeitige Chef des Hauses Hohenzollern, verbrachte hier seine Kindheit.

Verträumte kleine Brücken führen über die Wümme, verschlungene Trampelpfade laden zu einem Spaziergang durch den Ort ein, vorbei an alten Fachwerkhäusern, Feuchtwiesen sowie  Kuh- und Pferdeweiden. Die Straßen sind noch mit Kopfstein gepflastert, Gebäude dürfen maximal zweigeschossig sein und müssen dem Ortsbild entsprechen. Fischerhude ist ein Dorf, in dem die Zeit zumindest äußerlich stehengeblieben ist, ein Mekka für Landleben-Nostalgiker.

Und doch ist der strukturelle Wandel des ländlichen Raumes gerade hier gut abzulesen. Trecker und Gummistiefel sind auf den Straßen fast seltener anzutreffen als Reisebusse mit Touristinnen in Stöckelschuhen. Die Dorfkneipe mit Tresen, Stammtisch und Zigarettenautomaten ist passé, schmucke Cafés und edle Restaurants prägen das Bild, eingehüllt in einen ländlich-rustikalen Rahmen.

Im Café Feuer laden urige Kamine und altbäuerliches Mobiliar die Gäste zum Verweilen ein. Der Obstkuchen ist hausgemacht, der Kaffee stammt aus eigener Röstung. „Hier gibt es Bauern, Künstler und Jäger“, erzählt die Wirtin. Letztere kommen zur Entenjagd. Konflikte mit Anwohnern gebe es kaum. „Alle kommen gut miteinander zurecht.“ Aber: „Wenn Gülle ausgefahren wird, das muß ich auch nicht haben“, merkt sie an.

Auch Gerd Winkelmann hat sich auf seine Weise umgestellt. „Honig umme Ecke“, steht auf einem von ihm selbst angefertigten Holzschild an der Schusterstraße. „Umme Ecke“ befindet sich ein malerischer Garten. Mit Bienen: zwanzig Völker an der Zahl, die von Gerd Winkelmanns Frau Adelheid, einer professionellen Imkerin, gehegt und gepflegt werden. Den Honig verkaufen sie an die Touristen – direkt im Ort.

Fotos: Altes Bauernhaus in Fischerhude: Trecker und Landwirte in Gummistiefeln sind immer seltener anzutreffen, Honig-Händler Winkelmann

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