© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

CD: Matthäus-Passion
Barock-Rap
Werner Veith

Höhnisch und voller Haß forderten über 60 Personen die Todesstrafe in Würzburg. „Laß ihn kreuzigen! Laß ihn kreuzigen“, schrieen sie aggressiv. Der Angeklagte behaupte, König der Juden zu sein – und könne sich nicht einmal selbst helfen, spotteten die Versammelten in der St. Johanniskirche.

Die Rolle des bösen Volkes simulierte der Bachchor Würzburg. Dagegen übernahmen Profisänger den angenehmeren Part. Zu verdanken ist diese ungerechte Rollenverteilung dem Komponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750). Er schuf mit der von ihm selbst 1729 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführten Mat­thäus-Passion ein Barockwerk, das die Leidensgeschichte von Jesus vertont. Ein Evangelist als Berichterstatter erläutert die Handlung, übernommen zuweilen Wort für Wort aus dem Matthäus-Evangelium. Über weite Strecken hinweg ist das freilich ein Sprechgesang, eine Art Rap der Barockzeit. Dann folgen lieblich klingende Kirchenlieder, die fast heimelig an Konfirmationszeiten erinnern.

Die Solostimmen waren in der Würzburger Johanniskirche nicht nur stimmlich großartig, als es Richtung Opernarie ging, sondern überzeugten auch durch ihre klare Diktion. Bei Michael Nowak als Evangelisten und Yorck Felix von Speer als Jesus-Darsteller verstand man jedes Wort. Der Sopran von Maren Christina Roederer kletterte bei den Arien mühelos aufs Stimm-Trapez und verströmte im Duett mit Barbara Werner eine anrührende Stimmung. Der kräftige Bariton Schenker-Primus überzeugte selbst bei kindlichen Texten wie „Mach dich, mein Herze, rein. Ich will Jesum selbst begraben“.

Nicht vollkommen verstehbar war der beeindruckende Chorgesang. Da lohnte sich gelegentlich ein Blick ins Textheft, um zu wissen, wohin die Tragödie läuft. Unterstützung bekamen die Sängerinnen und Sänger sowohl vom Bachorchester Würzburg und den Münchner Bachsolisten als auch von den Würzburger Domsingknaben (Einstudierung Martin Berger).

Dirigent Christian Kabitz führte geschickt durch die Passion. Was harmlos anfing, steigerte sich unter seinem Kommando zu einem berührenden Drama. Dann folgte Stille. „Wir bitten sehr herzlich, auf Applaus zu verzichten“, heißt es im Programmheft. Der kleine Unterschied zwischen Kirche und Welt, zwischen geistlicher und weltlicher Musik, zwischen Passion und Oper war nicht zu übersehen.

CD-Aufnahmen der Matthäus-Passion gibt es wie Sand am Meer, über einhundert Einspielungen zählen die Kataloge. Bei vielen schimmert die romantische Tradition des 19. Jahrhunderts durch, mit opulenten Chören. Andere setzen nur acht Solosänger ein, wie der Dirigent Paul McCreesh und die Gabrieli Players (Archiv Produktion/Deutsche Grammophon). Wie das bei Johann Sebastian Bach genau war, wissen die Historiker bis heute nicht.

Wer nach einer Referenzaufnahme fragt, hört oft den Namen Karl Richter. Er dirigierte ab den 1950er Jahren den Bachchor München und konnte mit seinen Interpretationen viele Skeptiker in seine Konzerte locken. In der angeblich so materialistischen Adenauerzeit machte er das katholische München zu einer Bach-Stadt. Einen kleinen Eindruck aus dieser Zeit bietet die Deutsche Grammophon schon für wenig Geld (Chöre und Arien, DG 445 111-2) mit den Regensburger Domspatzen, Peter Schreier als Evangelist und Dieter Fischer-Diskau als Jesus.

Eine hörenswerte Aufnahme von der Passion gibt es auch von Enoch zu Guttenberg, dem Vater des jetzigen Verteidigungsministers. Er dirigierte die Leidensgeschichte Jesu mit der Chorgemeinschaft Neubeuern im Jahr 2002/2003. Dort spricht er auch über sein Verständnis der Matthäus-Passion (Farao Classics).

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