© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Sturmgewehr für den Klassenfeind
DDR: Pläne für ein Waffensystem, mit dem die SED Devisen scheffeln wollte, verschwanden in dunklen Kanälen
Paul Leonhard

Eine Handfeuerwaffe namens Wieger bringt das Bundeskanzleramt in Erklärungsnot. In der vergangenen Woche mußte Berlin bestätigen, daß der Bundesnachrichtendienst die Konstruktionsunterlagen des DDR-Sturmgewehrs 1993 heimlich und ohne Wissen der offiziellen Stellen beiseite geschafft hatte. Der Mitteldeutsche Rundfunk reagierte einen Tag später mit der Ausstrahlung einer Reportage des Berliner Filmemachers Andreas Wolter, der sich auf die Suche nach den Konstruktionsunterlagen dieser Waffe machte.

Zuvor hatte bereits die in Chemnitz erscheinende Freie Presse sich des Themas angenommen und einen Mitarbeiter des DDR-Rüstungsbetriebs in Wiesa schwärmen lassen: „Die Wieger schoß bei minus 60 Grad Celsius ebenso zuverlässig wie bei plus 50 Grad. Wir haben sie mit Sand berieselt, ohne daß sie verklemmte. Bei der Truppenerprobung in Peru und Indien ließ die Wieger auch in Sachen Präzision Sturmgewehre aus den USA und Westdeutschland weit hinter sich.“

Es galt als die Wunderwaffe von DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski: das Waffensystem Wieger 940. Es sollte Millionenerlöse in den von Schulden geplagten Arbeiter- und Bauernstaat spülen. Knapp 13 Millionen DDR-Mark investierte der Stasi-Oberst Ende der achtziger Jahre in die Entwicklung einer ganzen Familie des Sturmgewehrs STG 940. Sie reichte vom Standardsturmgewehr 941 mit Kunststoffkolben über den Karabiner 942, die Kompaktvariante 943 mit verkürztem Lauf und einklappbarer Metallschulterstütze und das leichte Gruppenmaschinengewehr 944 mit Zweibein und verlängertem Lauf bis zum Präzisionsgewehr PG 945 mit Zweibein, verlängertem Lauf und Zielfernrohr.

Gedacht war die Waffe nicht für die Nationale Volksarmee und deren im Warschauer Pakt versammelten Verbündeten, sondern für alle Länder, die lieber auf Nato-Munition setzten. Denn das neue Sturmgewehr war für das Kaliber des Klassenfeindes ausgelegt: 5,56 mal 45 statt 5,45 mal 39. Das Nato-Kaliber habe sich „weltweit durchgesetzt“, argumentiert Schalck-Golodkowski in einem Schreiben vom 28. Oktober 1986 an seinen Genossen Günter Mittag, Sekretär des Zentralkomitees der SED: „Alle namhaften Hersteller bieten moderne Waffensysteme in diesem Kaliber an. Die Munition ist weltweit verfügbar.“

Die nach außen friedliebende DDR produzierte damals längst die russische AK-74, eine Weiterentwicklung der legendären Kalaschnikow. Schützenwaffen wurden in Suhl und in Wiesa hergestellt. Allerdings waren damit kaum Devisen zu verdienen, denn der sowjetische Lizenzgeber gab selbst von mitteldeutschen Unternehmen durchgeführte Neuentwicklungen nicht für den Export in das nichtsozialistische Währungssystem (NSW) frei.

Aber selbst wenn die Russen nachgegeben hätten, wären die Absatzchancen gering gewesen. Der NSW-Kunde würde sich mit der Einführung dieses Waffensystems in zu große Abhängigkeit von den Munitionsherstellern Sowjetunion, DDR und China begeben, hatte Schalck-Golodkowski erkannt und die eigenständige Entwicklung eines Sturmgewehrs auf Nato-Kaliber gefordert. Damit könne die DDR „von der Position des reinen Lizenznehmers wegkommen und mit eigenen wissenschaftlich-technischen Leistungen auf dem NSW-Markt auftreten“. Gleichzeitig legte der Chefdevisenbeschaffer einen konkreten Zeitplan vor. Ab dem zweiten Halbjahr 1989 sollte die auf Basis des russischen AK-74 entwickelte neue Waffe für den Export bereitstehen.

Zwar wurde der Zeitplan eingehalten und ein Spitzenerzeugnis auf internationalem Höchststand entwickelt, für die DDR kam die Wieger trotzdem zu spät. Im Herbst 1989, kurz bevor das Waffensystem in die Massenproduktion gehen sollte, kam die Wende. Die Waffenschmiede VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa (GWB) mit ihrem Betriebsteil Geyer wurde von der Treuhand abgewickelt. Im August 1990 wurde die Produktion der Sturmgewehre eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits zwei Exportverträge vor. Peru hatte Wieger-Sturmgewehre für seine Polizei geordert und Indien sich eine Option über die Lieferung von mehr als zehn Millionen STG 941 gesichert. Beide Verträge wurden, soweit die Waffen noch nicht geliefert waren, von der Bundesrepublik storniert.

Damit wäre die Wieger – der Name steht für die Wörter „Wiesa“ und „Germany“ – eigentlich nur noch ein Teil der Militärgeschichte, hätte sich nicht unlängst der Münchner Historiker Karl Bernd Esser für den Verbleib der Konstruktionsunterlagen interessiert. Dabei stellte sich heraus, daß die gesamte Technologie des DDR-Sturmgewehrs nicht wie bisher behauptet einem Militärarchiv in München übergeben wurde, sondern dem dortigen Stadtbüro des Bundesnachrichtendienstes.

Was der BND damit angestellt hat und wo sich die Konstruktionspläne, Lehren und Werkzeuge zur Zeit befinden, ist unklar. Fest steht nur, daß seit einigen Jahren die US-Firma Inter Ordnance Inc. Wieger-Gewehre baut und vertreibt. Die Amerikaner versichern allerdings, keine Originalpläne zu besitzen und für ihre Version eine alte DDR-Wieger auseinandergenommen zu haben. Das könnte stimmen: Waffenexperten bescheinigen der amerikanischen Wieger durchweg schlechtere Eigenschaften als den gut 7.000 Exemplaren aus DDR-Produktion.

Foto: DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski (1992): Verträge mit Indien

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