© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

CD: Stil
Chronisches
Jens Knorr

Was macht die Modernität von Ian Bostridges Schubert-Interpretation aus? Was unterscheidet den Sänger mit der lyrischen, leichten Tenorstimme von allzu vielen Schubert-Interpreten und -Interpretationen, die den Markt Monat um Monat überschwemmen?

Seinen Auseinandersetzungen mit den beiden großen Liederzyklen hat Bostridge nun endlich die mit jenen sieben Liedern nach Rellstab, sechsen nach Heine und dem einen angehängten nach Seidl folgen lassen, welche Schubert in seinem letzten Sommer komponiert oder vollendet und Verleger Haslinger postum unter dem verkaufsträchtigen Titel „Schwanengesang“ D 957 zu einem Zyklus zwangsvereinigt hat. Und es ist, als verfüge erst der moderne Gesangsinterpret – der Singen immer auch als ein Singen über das Singen begreift, damit es überhaupt als eine zweite Natur erscheinen kann – über die Mittel, die innere Einheit der Lieder herzustellen, indem er ihre Divergenzen herausarbeitet (EMI Classics 2 42639 2).

Wären die Heine-Lieder – teils schroffste Gebilde, weit in das 19. Jahrhundert voraustastend, die zu verhöhnen scheinen, was bis dahin und lange danach unter dem Label Lied firmierte und in die Bostridge die Heinesche Ironie auf neuer, höherer Ebene wieder einbringt –, wären sie überhaupt zu ertragen, gingen ihnen nicht die, scheinbar idyllischen, Rellstab-Fabrikate voraus? Bostridge, Erzähler und Erzählter zugleich, rückt erstere in die Nähe der Lieder Hugo Wolfs, von denen er einige, ebenfalls mit Antonio Pappano am Flügel, auch aufgenommen hat.

Aber Schubert wäre nicht Schubert gewesen und Bostridge wäre nicht Bostridge, wenn sie den einen Dichter nur für den Schmerz und den andern nur für die Liebe für zuständig erklärten. Die Rellstab-Lieder sind ihm keine der Liebeserfüllung, und zu erlangen, was in ihnen verheißen wird, nur in musikalischen Übersprungshandlungen möglich. Den Fragewörtern an den Strophenenden der „Frühlingssehnsucht“ etwa gibt Bostridge existentielle Dringlichkeit. In flüchtigem Tempo läßt er den Stadtflüchtigen seinen „Abschied“ nehmen, ohne Sentimentalität und Fröhlichkeit, aber mit Sarkasmus. Dafür leistet er sich durchaus modern anmutende rhythmische Freiheiten und bei dem letzten „Ade“ des Reisenden histrionischen Effekt.

Hatte Verleger Haslinger das vermeintlich läppische Schlußstück, die „Taubenpost“, den Liedern nur angeheftet, um die Zahl Dreizehn zu vermeiden, so folgt Bostridge durchaus konzeptionellem Kalkül, wenn er dem Zyklus drei Lieder voranstellt – „Geheimnis. An Franz Schubert“, D 491, auf Mayrhofers gereimte Alexandriner, dessen Komposition die oft in Zusammenhang mit den Heine-Liedern unterstellte Humorlosigkeit Schuberts widerlegt, „An Schwager Kronos“ D 369 nach Goethe und „Widerschein“ D 949 nach Schlechta – und ein Lied, den Mayrhoferschen „Abschied“ D 475, hintan. Wir mußten also erst in der Hölle ankommen, auf deren Tore zu der Ritt mit Schwager Kronos in der Vertonung von 1816 unvermeidlich gegangen war – in Schuberts Hölle des Jahres 1828, in Mayrhofers Hölle des Jahres 1836, da der Freund seinem Leben als Metternichscher Bücherzensor ein Ende setzte, und zuletzt in unserer –, um Schuberts Liebesbotschaften verstehen zu können.

Wie kein Sänger sonst vermag Ian Bostridge in Schuberts Liedern das Kleingedruckte des bürgerlichen Gesellschaftsvertrags zu entziffern, der dauert und dauert und nimmer auslaufen will: Todesverleugnung und Todesverfallenheit, oberflächliche Coolness und abgrundtiefe Einsamkeit. Der ihn einseitig aufkündigte, Schubert, hatte die Kündigungsfristen zu optimistisch eingeschätzt. Die wichtigen Kündigungsgründe singend zur Sprache zu bringen, macht die Modernität von Bostridges Interpretation aus.

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