© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Die Euphorie ist längst verflogen
Europapolitik: Eine Tagung in Leipzig sieht die Existenz der EU durch einen neu aufkeimenden Nationalismus in Mittel- und Osteuropa bedroht
Ekkehard Schultz

Die Zeiten der großen Europa-Begeisterung sind vorbei. Heute gehört jeder zehnte Abgeordnete des Europäischen Parlaments einer Partei an, die der Europäischen Union skeptisch gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund widmete sich am vergangenen Samstag das 17. Europaforum im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig der Frage, ob ein  wieder aufkeimender Nationalismus die Europäische Union sprengen kann.  

Der ungarische Schriftsteller György Dalos, der den diesjährigen Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhielt, wies darauf hin, daß das Problem des Nationalismus im heutigen Ungarn seine Wurzeln vor allem in dem „zu friedlichen Übergang“ von der Diktatur zur Demokratie von 1988/89 habe. Zu diesem Zeitpunkt seien viele innere Widersprüche in der ungarischen Gesellschaft nur oberflächlich thematisiert worden. Vieles wurde mit einer großen Europa-Euphorie verdeckt, ein möglichst schneller Beitritt in die EU erschien schon allein als Garantie für Wohlstand und Demokratie. Diese übertriebenen Hoffnungen mußten zwangsläufig enttäuscht werden, und so schwand in den folgenden Jahren mit den Schwierigkeiten beim gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau auch das Vertrauen in die EU. 

Ebenso wie Dalos verwies der polnische Journalist Adam Krzeminski darauf, daß es in der Zeit des Übergangs zur Demokratie in seinem Land sehr große Hoffnungen auf eine gemeinsame europäische Zukunft gegeben habe. Gerade die nach den Wahlen im Juni 1989 gebildete Solidarnosz-Regierung habe dabei deutliche Zeichen gesetzt: So sprach sie sich nach der Flucht von DDR-Bürgern in die westdeutschen Botschaften für eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten aus. Auf diese Weise sollte das deutsch-polnische Verhältnis verbessert und der Weg in die EU geebnet werden.

Dennoch habe sich seit 2000 das Verhältnis der Polen zu Europa deutlich verschlechtert. Viele hätten nach dem Beitritt ihres Landes im Jahr 2004 das Gefühl gehabt, von der Gemeinschaft eher als Last denn als Bereicherung empfunden zu werden. Die daraus resultierende Enttäuschung sei wiederum eine wesentliche Ursache für eine spürbare Zunahme des Nationalismus, insbesondere bei der jüngeren Generation.

Der Staatsrechtler und EU-Kritiker Karl Albrecht Schachtschneider hob hervor, es sei unumstritten, daß nach den Erfahrungen des Weltkrieges und des nationalen Hasses die europäischen Völker eng zusammenarbeiten sollten. Gleichwohl dürften diese engen Beziehungen nicht dazu führen, andere Werte aufzugeben. Europa müsse sich auf den Nationen aufbauen, umgekehrt sei dies nicht möglich. Keinem Volk dürfe das Recht verweigert werden, über sein eigenes Schicksal abzustimmen. 

Die in weiten Teilen des Volkes verbreitete Europaskepsis führte Schachtschneider auf entscheidende demokratische Defizite in der heutigen EU zurück. Die Wahlen zum Europäischen Parlament beispielsweise seien bei den Bürgern schon deswegen wenig beliebt, da die gewählten Abgeordneten nur einen geringen Einfluß auf die Europäische Kommission und ihre Beschlüsse hätten. Zudem seien die Mitsprachemöglichkeiten weit geringer als auf nationaler Ebene. Daher vertrete auch das Bundesverfassungsgericht die Überzeugung, daß in der EU die Demokratie in den einzelnen Staaten, jedoch nicht in den europäischen Institutionen selbst ihre Wurzeln habe.

Schachtschneider kritisierte zudem, daß die EU-Kommission mit allen Mitteln versuche, Probleme zu kaschieren und den Bürgern Sand in die Augen zu streuen. So werde verschleiert, daß es eine tatsächliche Verteilungsgerechtigkeit auf europäischer Ebene bis heute nicht gebe. Dies sei wiederum ein geeigneter Nährboden für nationalistische Bewegungen, die mit sozialem Protest um Stimmen würben.

Die Abgeordnete der Grünen im Sächsischen Landtag und frühere Europaabgeordnete Gisela Kallenbach vertrat dagegen die Ansicht, daß die Kritik an der EU oft sehr einseitig ausgerichtet sei. Denn viele der unpopulären Entscheidungen auf europäischer Ebene seien zuvor von den nationalen Regierungen beschlossen worden. Dennoch mache man für negative Auswirkungen gerne Brüssel und Straßburg verantwortlich. 

Generell sei es wichtig, die EU nicht als abgehobenen Überbau, sondern als Familie zu verstehen, forderte Kallenbach. Diese könne insgesamt nur so gut sein wie die Leistungen, welche die einzelnen Mitglieder für das gemeinsame Ganze erbrächten. Zudem sei ein hohes Maß an Solidarität unverzichtbar. Gerade in dieser Frage dürfe nicht vergessen werden, daß Sachsen ebenso wie zahlreiche andere als besonders eurokritisch geltende Regionen durch den Transfer von Fördergeldern nicht unwesentlich von der Europäischen Union profitiert habe.

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