© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Stalins Bart in der „DDR-Show“
Erika Riemann, einst politisches Opfer in der Sowjetischen Besatzungszone, erzählt von den Folgen ihrer aufsehenerregenden Autobiographie
Christian Dorn

Einem besonders gefürchteten Diktum Stalins zufolge war der Feind gerade da zu vermuten, wo er sich nicht offen zu erkennen gab. Davon wußte die damals vierzehnjährige Erika Grabe im thüringischen Mühlhausen nichts. Genaugenommen wußte sie nicht einmal, wer der Generalissimus war. Im Herbst 1946 hatte ihre Klasse die frisch renovierten Schulräume besichtigt. Als die Gruppe schon wieder gehen wollte, fiel der Blick des Mädchens auf den Bilderrahmen: Bis vor kurzem hatte dort noch ein Bild des „stets etwas grimmig dreinschauenden Adolf Hitler“ gehangen. „Jetzt blickte ein anderer Diktator nicht weniger düster von dort auf uns herab.“ Als jemand ihrem Blick folgte und in ängstlichem Ton murmelte: „Das ist doch Stalin“, fühlte sich die stets burschikose Erika herausgefordert. In ihrer Tasche spürte sie den Lippenstift. Mit den Worten „Du siehst ja ziemlich traurig aus“ stieg sie auf einen Stuhl und malte Josef Stalin „eine kecke Schleife um den Schnurrbart“. Wenig später wird sie hierfür von den Russen verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, von denen sie acht Jahre verbüßen muß. Zu den Stationen gehören das von den Sowjets weitergeführte KZ Sachsenhausen sowie die Gefängnisse Bautzen und Hoheneck.

Wie unmenschlich die Haftbedingungen in jener Zeit waren, läßt sich bereits an den Zahlen ablesen. So wurden in der Sowjetzone in den Jahren zwischen 1945 und 1950, verteilt auf zehn Speziallager, insgesamt 122.671 Menschen interniert. Über ein Drittel dieser Häftlinge starb während dieser Zeit, an 756 Personen wurden Todesurteile vollstreckt, knapp 20.000 Gefangene wurden weiter in die Sowjetunion deportiert. Unter diesen Umständen ist das Überleben der jungen Frau, die in der Haft eine TBC-Erkrankung (ohne Penicillin) sowie eine Blinddarm-Entfernung (ohne Betäubung) durchsteht, fast ein Wunder.

Nach der Entlassung 1954 flüchtet sie zu der Mutter und den Geschwistern in den Westen und versucht, das ihr geraubte Leben nachzuholen. Doch das Gefühl des Scheiterns begleitet sie über Jahrzehnte. Wie so viele andere Betroffene wagt sie es nicht, in der Familie offen über ihre Inhaftierung zu sprechen. Es ist die Angst, unverstanden zu bleiben, andere abzuschrecken oder gar zurückgewiesen zu werden. Damit einher geht das unausgesprochene Gefühl, das eigene Schicksal letztlich selber verschuldet zu haben. So pflanzen sich die auf die Traumata jener Zeit gegründeten Verhaltensmuster über Jahrzehnte fort. Entsprechend stehen ihre drei Kinder, die sie zur Welt bringt, zugleich für drei gescheiterte Ehen. Als sich Erika Riemann schließlich entscheidet, ihren Lebensweg für ihre Nachkommen aufzuschreiben, entsteht daraus ein Buch, das 2002 erscheint und sie später in ganz Deutschland bekannt machen soll.

Die Dialektik der Geschichte will es, daß dies ausgerechnet ihrem Auftritt im Jahr 2004 in der „DDR-Show“ von Oliver Geissen auf RTL zu verdanken ist, die sich eigentlich der Ostalgie verpflichtet sieht. Sie will dort weder als „Betroffenheitstante“ auftreten noch als Alibi dienen und lehnt zunächst ab. Am Ende überzeugt sie die verantwortliche RTL-Redakteurin aber doch. Der beeindruckende Auftritt der alten Dame mit ihrer erschütternden Leidensgeschichte verschlägt dann selbst RTL-Moderator Geissen die Sprache – und er vergißt, ihr Buch vorzustellen. Dies holt Nina Hagen nach. In der folgenden Sendung schenkt sie jedem Studiogast das Buch über „Die Schleife an Stalins Bart“. Geissen hält es wortlos in die Kamera.

Der Verlag muß nach dieser Sendung mehrfach nachdrucken. Erika Riemann geht auf Reisen, in Gedenkstätten und vor Schulklassen berichtet sie seither über ihre Geschichte, die längst nicht mehr ihre eigene sei, denn: „Die Geschichte meiner gestohlenen Jugend gehört mir nicht mehr allein.“ Inzwischen hat sie unzählige Zuschriften und Reaktionen erhalten, Fragen gerade auch zu den Spätfolgen der Haft. Dazu zählt die Erfahrung, daß der Glaube, sich von der Last der Vergangenheit freigeschrieben zu haben, ein Irrtum ist. Denn die Panikattacken, die plötzlich hoch aufschießende Mauer, das Versagen der eigenen Stimme kommen immer wieder, auch mitten in der Lesung.

Doch Erika Riemann hat gelernt, daß es nur einen Weg gibt: darüber reden, immer und immer wieder. So haben erst durch ihr Buch viele andere Betroffene einen Weg gefunden, nach Jahrzehnten des Schweigens über ihre eigene Inhaftierung zu sprechen. Wie wichtig ihre Geschichte darüber hinaus ist, zeigt sich gerade an den Reaktionen insbesondere der jungen Generation, die über die Vorfälle im weit entfernt liegenden Abu Ghraib weit mehr wissen als über diese Verbrechen in der Frühphase der DDR. („Warum haben Sie nicht mit dem Handy Ihre Mutter angerufen?“)

Diesem zweiten Buch von Erika Riemann, in dem sie ihre Erfahrungen seit der ersten Veröffentlichung und das bis heute anhaltende Unrecht gegenüber den ehemaligen politischen Häftlingen schildert, können nicht genug Leser gewünscht werden. Denn es rührt den Leser an wie wohl nur wenig andere Publikationen zu dieser Thematik. Nicht zuletzt steht es exemplarisch für eine Teilgeschichte des politischen Witzes: dem Vorgang, wie aus dem harmlosen Adjektiv „scherzhaft“ ein beinahe tödliches Substantiv wird.

Erika Riemann: Stalins Bart ist ab. Von Bautzen zum Bundesverdienstkreuz. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2010, gebunden, 240 Seiten, 21 Euro

Erika Riemann: Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach. Piper Verlag, München 2009, broschiert, 254 Seiten, 8,95 Euro

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