© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Folgenloses Gerede
Dekadenter geht’s nimmer: Die Eliten geben den Takt vor, und die Masse zieht mit
Erik Lehnert

Debatten über den Sozialstaat erfreuen sich großer Beliebtheit. In regelmäßigen Abständen fühlt sich irgendjemand berufen, etwas Grundsätzliches zum Thema Hartz IV im speziellen oder Umverteilung im allgemeinen zu sagen. Vorausgesetzt, die Äußerungen stammen von einer bekannten Persönlichkeit und werden mit entsprechender Wortwahl vorgetragen, findet die Debatte ihre Fortsetzung im Politikteil von Zeitungen und Zeitschriften. Irgendwann landet sie im Feuilleton, weil klar ist, daß diese Debatten wenig mit Politik im eigentlichen Sinne zu tun haben. Und weil insgeheim jeder weiß, daß es bei einer Debatte bleiben und kaum spürbare Auswirkungen haben wird, deshalb sind diese Debatten so beliebt – leider auch bei Regierungsmitgliedern wie Guido Westerwelle.

Wer die Sarrazin-Debatte des vergangenen Jahres Revue passieren läßt (siehe hierzu auch den Beitrag auf Seite 19 dieser Ausgabe), wird sich erinnern, daß damals ausschließlich dessen Äußerungen zur mangelnden Integration von Ausländern skandalisiert wurden. Dabei ging es Sarrazin um ein viel grundsätzlicheres Problem. Am Beispiel Berlins versuchte er auf die mangelnde Leistungsbereitschaft von Fürsorgeempfängern hinzuweisen, die – wie die Stadt selbst – erst durch „Entzugsschmerzen wieder an die Wirklichkeit gewöhnt werden“ müßten. Daran knüpfte er seine Forderung, Berlin wieder zu einer Stadt der Elite zu machen, was nur gelingen könnte, wenn Leistung entsprechend vergütet würde.

Vor einem Monat machte dann Westerwelle in einem kurzen Beitrag für die Welt seinem Ärger Luft über diejenigen, die infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils für eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze plädieren. Da Sarrazin Hartz-IV-Empfängern auch schon mal dicke Pullover empfohlen hatte, um Heizkosten zu sparen, konnte man meinen, hier denken zwei dasselbe. Sarrazin hat das auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung empört zurückgewiesen – und auch Westerwelle müßte dies tun, wenn ihn jemand fragen würde.

Denn Westerwelle verschweigt Dinge, die Sarrazin beim Namen nennt. Das fängt bei der Frage an, inwieweit die Krise des Sozialstaats auf die ungezügelte Einwanderung seit den sechziger Jahren zurückzuführen ist, und hört bei grundsätzlichen Erwägungen über die Natur des Menschen auf. Westerwelle ist als „Freidemokrat“ und Liberaler der Überzeugung, daß der Mensch zum Guten neigt, wenn er freigelassen und nicht vom Staat besteuert oder versorgt wird. Sarrazin ist da viel pessimistischer: Der Mensch ändert sich nicht. Und der Staat muß verhindern, daß die falschen Leute den Ton angeben. Das kann er nur, wenn dieser Staat von den richtigen Politikern geführt wird. Nicht erst seit der Regierungsbeteiligung der FDP kann man Zweifel haben, ob das in Deutschland der Fall ist. Das desaströse Bild, das seine Partei in der Regierung abgibt, versuchte Westerwelle mit einem klassischen Ablenkungsmanöver zu überspielen und war sich nicht zu schade, dafür mal eben die „geistig-politische Wende“ einzuläuten.

Westerwelle ist Berufspolitiker und auf die Zustimmung zumindest eines Teils der Massen angewiesen. Deshalb weiß er seinen Populismus auch sehr dosiert einzusetzen. Daß er sich die Hartz-IV-Empfänger vorgeknöpft hat, ist leicht einzusehen. Die FDP macht Klientelpolitik und kann bei den Hartz-IV-Leuten nicht auf Stimmen hoffen. In der Welt des Guido Westerwelle ist diese Tatsache natürlich ein Beweis für die Renitenz dieser Menschen. Denn müßten diese, wenn sie denn arbeiten wollten, nicht unbedingt FDP wählen, die Partei, die für Fortschritt, Leistung etc. steht? Eigentlich müßten sie. Aber ihre Lebenswelt sieht deutlich anders aus, als sich das Westerwelle vorstellt. Er vermittelt nicht den Eindruck, daß er von dem, was er sagt, eine Ahnung hat. Auch das ist bei Sarrazin anders.

Statt anschaulicher Wahrheiten liefert Westerwelle begriffliche Halbwahrheiten. Daß es am unteren Ende der Gesellschaft eine Vollversorgungsmentalität gibt, ist sicher richtig. Doch am oberen Ende existiert diese in ähnlicher Weise. Wenn es Großbanken und Unternehmen gelingt, ihre Verluste auf die Allgemeinheit abzuwälzen, und die Verantwortlichen dennoch mit Millionenabfindungen bedacht werden, ist das ebenso Ausdruck einer verkommenen Arbeitsauffassung und das Gegenteil von Leistungsgerechtigkeit. Die Eliten geben den Takt vor, und die Masse zieht mit.

Und erst das führt zur „spätrömischer Dekadenz“, die Westerwelle als Vergleich herangezogen und die mit „anstrengungslosem Wohlstand“ zunächst gar nichts zu tun hat. Leute, die sinnlos prassen konnten, hat es fast immer gegeben. Die spätrömische Dekadenz meint das Ende des römischen Staats, der zerfallen ist, weil er seinen Einwohnern, den Römern, gleichgültig geworden war. Es war kein Wille mehr da, das Eigene zu verteidigen, sich für den Kampf zu entscheiden. Die Römer hatten sich vom Staat, der ihnen einst Verpflichtung war, emanzipiert. Dann kamen die Germanen und hatten leichtes Spiel.

Heute sind andere da, denen gegenüber wir uns dekadent verhalten. Das ist nicht von der Hand zu weisen, wenn auch nicht in dem von Westerwelle gemeinten Sinn. Dekadent ist es beispielsweise, sich polnischen Interessen zu unterwerfen. Aber auch die von Westerwelle angeschobene Sozialstaatdebatte ist dekadent. Zunächst einmal wegen der bereits genannten Tatsache, daß allen Beteiligten klar ist, daß sie folgenlos bleiben muß. Westerwelle hat – außer seinem dogmatischen Ruf nach Steuersenkungen – keine Idee, wie man den Sozialstaat, der ja zweifellos in der Krise steckt, so reformieren könnte, daß es leistungsgerechter zugeht.

Wer in der Regierung ist, hat Verantwortung und muß handeln. Wenn er das nicht kann, ist irgend etwas nicht in Ordnung – entweder mit dem Politiker, mit der Regierung oder gar mit dem System. Gerhard Schröder wurde nach der Hartz-Reform nicht wiedergewählt. Daß das auf potentielle Reformer des Sozialstaats abschreckend wirkt, ist verständlich, aber nicht hinnehmbar. Es ist deshalb der Gipfel der Dekadenz oder das folgenlose Eingeständnis totalen Scheiterns, wenn ein regierender Politiker den Eindruck erweckt, ihm seien die Hände gebunden und nur eine öffentliche Debatte könne ihm den Handlungsspielraum zurückgeben.

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