© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Feuilleton und Realität
Panik unter Linken
von Peter Kuntze

In seiner Komödie „Der Mitmacher“ (1973) läßt Friedrich Dürrenmatt einen der Protagonisten über die Intellektuellen sagen: „Sie nehmen die Welt gleich zweimal in Anspruch: so, wie sie ist, und so, wie sie sein sollte. Von der Welt, wie sie ist, leben sie, von der Welt, wie sie sein sollte, nehmen sie die Maßstäbe, die Welt zu verurteilen, von der sie leben; und indem sie sich schuldig fühlen, sprechen sie sich frei.“

Nichts charakterisiert die linksliberalen Polit-Feuilletonisten der deutschen Leitmedien treffender als diese Worte. Seit sie vor vierzig Jahren in der damaligen Bonner Republik die Deutungshoheit über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes errungen hatten, schien sie nichts mehr aus dem Sattel werfen zu können. Selbst die unverhoffte Wiedervereinigung, die den meisten von ihnen ein Graus und eine peinliche Panne der Weltgeschichte war, konnten sie alsbald in altbundesrepublikanische Diskurs- und Politikbahnen lenken.

Die Siegesgewißheit der Moraltrompeter und Volkspädagogen ist dahin. In ihrem toleranten Wolkenkuckucksheim herrscht Panik – ja: Unter den eifrigsten Verfechtern des „Eine Welt“-Traums der Aufklärung ist es zu Hauen und Stechen gekommen.

Doch seit einem halben Jahr ist die Siegesgewißheit der Moraltrompeter und Volkspädagogen dahin. In ihrem liberalen und toleranten Wolkenkuckucksheim, das sie für sich und die Leser jahrelang so beredt gezimmert, ausgeschmückt und für die Wirklichkeit ausgegeben haben, herrscht Panik – ja, mehr noch: Unter den eifrigsten Verfechtern des menschheitsbeglückenden „one world“-Traums der Aufklärung ist es zu Hauen und Stechen gekommen. Fast könnte man meinen, in den führenden Feuilletons (Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) fände ein Kulturkampf unter einstigen Gesinnungsgenossen statt.

Was ist geschehen? Das umstrittene Interview, das der Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin Anfang Oktober 2009 der Zeitschrift Lettre International gegeben hatte, das zwei Monate später per Volksentscheid herbeigeführte Schweizer Minarett-Verbot sowie das in Frankreich geplante Burka-Verbot haben die Themen Integration und Islam so nachhaltig auf die Tagesordnung gesetzt, daß sie nicht mehr tabuisiert oder schöngeredet werden können. Hatten die smarten Feuilletonisten die Problematik der Zuwanderung bislang mit Rabulistik und erhobenem Zeigefinger auf ein lediglich soziales Phänomen reduziert, so mußten auch sie nun zur Kenntnis nehmen, daß es sich um eine kulturelle und religiöse, ja, mittlerweile sogar um eine nationale Frage handelt – so, wenn sich Autoch­thone im eigenen Land als „Schweinefleischfresser“ und „Scheiß-Deutsche“ beschimpfen lassen müssen.

Wer beizeiten auf diese Kehrseite der ungezügelten Immigration hingewiesen hatte, wurde umgehend der Fremdenfeindlichkeit geziehen. „Vorurteile, Klischees, Stereotype, Ressentiments, Generalverdacht, Stammtisch, Populismus“ – unter dieser Schimpfkanonade sah sich als vermeintlicher Neofaschist an den Pranger gestellt, wer es wagte, die feuilletonistischen Weichzeichnungen zu Hirngespinsten zu erklären. Genau dies indes bestreitet Zeit-Redakteur Jörg Lau bis heute, obwohl sich auch der Fall Sarrazin exakt nach dem altbekannten Denunziationsmuster bis hin zum Vorwurf der „Volksverhetzung“ abgespielt hatte.

Am 22. Oktober 2009 sah sich Lau genötigt, auf einer ganzen Seite Stellung zu der Flut von Leserbriefen und Online-Beiträgen zu nehmen, die – im Gegensatz zur empörten Kommentierung im eigenen Blatt – Sarrazin vehement beipflichteten. Mancherorts, so Lau, habe sich offenbar der Eindruck verfestigt, „daß man in Deutschland über bestimmte Dinge nicht mehr reden kann, ohne erst in die rechte Ecke gedrängt und dann in den Senkel gestellt zu werden“. Entsetzt mußte er nun feststellen, daß in den Fragen von Integration und Islam auch bei Lesern und Machern der Zeit öffentliche und veröffentlichte Meinung weit auseinanderklaffen: „Es kommen in den Leserbriefen und den Online-Debatten Annahmen über den Stand der Integration, über die ‘wahren Ursachen’ der Probleme des Einwanderungslandes, über die deutsche Identität und über die Haltung der Migranten zutage, die noch weit über Sarrazins Zuspitzungen hinausgehen.“

Eine unterdrückte Wut, so der konsternierte Zeit-Genosse, mache sich Luft; viele Beiträge seien geradezu von einem Gefühl der Befreiung getragen: „Mit der alten völkisch-rechten Fremdenangst hat dieses Phänomen herzlich wenig zu tun. Der politisch-emotionale Druckausgleich findet diesmal eher auf der liberal-progressiven Seite der Gesellschaft statt: Nicht schon die Andersheit des anderen sei das Anstößige, sondern sein Zurückbleiben im Modernisierungsprozeß, wie es sich in religiösen Symbolen, traditionsverhafteten Familiensitten und Machismo äußere.“ Und dann erklomm Lau den Gipfel seiner Leserbeschimpfung: „Eine manchmal schwer erträgliche Aura biederer Selbstgerechtigkeit gegenüber den Modernisierungsversagern prägt viele Äußerungen, die zuweilen an einen fortschrittlichen Rassismus grenzen.“ Es sei, so Lau, „die wutschäumende Mitte, über die man sich Gedanken machen muß“, denn bei ihr habe sich der Glaubenssatz verfestigt, der Islam sei das Problem und Muslime seien nun einmal nicht integrierbar.

Im Grunde ist es ein verzweifelter, weil aussichtsloser Kampf um die Deutungshoheit, den Lau und seine Kollegen in ihren feuilletonistischen Kemenaten führen. Ließen sich nämlich Leserbriefe zu brisanten Themen vor kurzem noch geschickt auswählen, sind derartige Manipulationen im Internet-Zeitalter nicht mehr möglich.

Doch nicht nur mit der eigenen, vermeintlich fortschrittlich-aufgeklärten Klientel liegt so mancher wackere Volkserzieher im Streit; längst hat das Ringen um die Meinungsführerschaft auch die eigenen Reihen erfaßt und treibt zunehmend bizarre Blüten.

Den Anfang machte Thomas Assheuer, ebenfalls in der Zeit. War ihm naturgemäß schon das eindrucksvolle Votum der Schweizer für ein Minarett-Verbot völlig unverständlich, so konnte er es noch weniger fassen, daß die Abstimmung sogar von manchen Intellektuellen begrüßt wurde. Schließlich, so Assheuer in einer Philippika am 17. Dezember, handle es sich um „säkulare Intellektuelle, die in der Tradition von Liberalismus und Aufklärung stehen und für die ein Lessing, ein Heinrich Heine oder Ludwig Börne ein Vorbild abgibt“. Unter der Rubrik „Hochmut der Vernunft“ ritt er seine Attacke namentlich gegen die US-Historikerin Anne Applebaum, die aus Somalia stammende niederländische Islam-Kritikerin Ayaan Hirsi Ali, die Berliner Soziologin Necla Kelek sowie gegen den Publizisten Henryk M. Broder. Ihnen allen warf Assheuer „Aufklärungs-Fundamentalismus“ vor.

Am 9. Januar setzte Claudius Seidl nach. Der ehemalige Kulturredakteur der Süddeutschen Zeitung und jetzige Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung etikettierte Broder, Kelek und die türkischstämmige Anwältin Seyran Ates als „unsere heiligen Krieger“ und unterstellte ihnen einen „Rassismus, der sich seiner selbst nur nicht bewußt ist“. Fünf Tage später ließ Thomas Steinfeld, Feuilletonchef der SZ, dem Artikel seines früheren Kollegen ein Pamphlet folgen, das es verdient, als Dokument der Preisgabe bisher für unverzichtbar gehaltener Prinzipien und als Versuch vorauseilender Anpassung an kommende Zeiten in die Annalen einzugehen.

Die Beschwörung der „westlichen Werte“ (von Steinfeld selbst in distanzierende Anführungszeichen gesetzt), so erklärte er, bringe ihre eigenen Haßprediger hervor, denn: „Wer die Grundbegriffe der Demokratie behandelt, als wären sie Glaubensartikel – Gebote, zu denen man sich bekennen muß –, der ist von der Gesinnung ihrer Gegner schon durchdrungen. Deswegen tut es den ‘demokratischen Grundwerten’ gar nicht gut, wenn man sich mit ihnen ‘identifizieren’ soll.“ Und dann verstieg er sich zum kapitulativen Gewaltverbot des späten Grafen Tolstoi: „Wer auf Toleranz beharrt, für den kann die Toleranz nicht aufhören, wenn ein anderer nicht tolerant sein will.“ Wer sich der Gleichheit verschreibe, der dürfe „nicht nach der Polizei rufen, wenn er auf individuelle Interessen stößt“.

Diese Radikal-Rabulistik ging selbst Ulrich Greiner zu weit. Der Kulturreporter der Zeit nannte Steinfeld einen „Appeasement-Prediger“ und „blinden Toleranzenthusiasten“, der angesichts des tief in die westlichen Gesellschaften eingedrungenen islamischen Fundamentalismus den Verzicht auf angemessene Selbstverteidigung empfehle (Die Zeit, 28. Januar). In Greiners Stellungnahme war somit erstmals ein realistischer Ton zu vernehmen, der sich vielleicht auch den zahlreichen Leserbriefen verdankte, in denen die linksliberalen Volksbelehrer über ihren angeblich „wahren Islam“ aufgeklärt wurden.

Der von Mohammed verkündete Glaube an Allah, der letztlich überall in eine Theokratie münden soll, ist keineswegs eine Religion des Friedens, sondern eine politische Weltanschauung auf dem Fundament einer Gotteslehre, die auf dem archaischen Justizsystem der Scharia beruht. Die immer gern zitierte Sure, der zufolge es „keinen Zwang im Glauben“ gebe, gilt nur, solange die Muslime in der Minderheit sind; stellen sie die Mehrheit, gewährt der islamische Gottesstaat keine Toleranz – schon gar nicht gegenüber jenen, die vom Glauben an Allah abgefallen sind. Auf einem Kongreß in Frankfurt erläuterte die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi: „In einem Staat mit muslimischer Mehrheit hat niemand das Recht, sich dem zu widersetzen, was der Scharia entstammt.“ Selbst die Berufung auf die Menschenrechte hilft nichts, denn nach der Kairoer Erklärung von 1990 gilt in islamischen Staaten die Uno-Menschenrechtscharta nur soweit, als sie den „heiligen Büchern“, also dem Koran und der Scharia, nicht widerspricht.

Doch weder diese Fakten noch Greiners Kritik an Steinfeld führten zu einem Ende der Debatte. Im Gegenteil: Bis heute geht der Streit im linksliberalen Lager sowohl zwischen den diversen Feuilletons als auch innerhalb der jeweiligen Ressorts weiter, so daß bei den Themen Integration und Islam von einer Deutungshoheit keine Rede mehr sein kann. Die „Edelfedern“ haben längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Dabei hatte Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Zeit, bereits 2004 die Kernaussagen Sarrazins hinsichtlich der Integrationsdefizite immigrierter Türken vorweggenommen: Vierzig Jahre nach der ersten Einwanderungswelle, so schrieb er damals, sei „der soziale Aufstieg der Türken kaum zu erkennen ... Die Zahlen sind ein einziges Desaster“ (Die Zeit, 41/04). Dennoch ließ Di Lorenzo sechs Jahre später seine Feuilletonisten Jagd auf den ehemaligen Berliner Finanzsenator machen.

Am 18. Februar griff der Chefredakteur in die von Guido Westerwelle ausgelöste Debatte um Hartz IV und den Sozialstaat ein und konstatierte erneut: „Die vorläufige Bilanz von Hartz IV ist erschreckend.“ Es dränge sich der Verdacht auf, daß das deutsche Sozialsystem immer noch attraktiv genug sei, „daß es massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze auslöst“ (Die Zeit, 8/10).

Einen ähnlichen Eiertanz führte dieser Tage die Süddeutsche Zeitung auf. Nachdem auch sie wochenlang aus allen feuilletonistischen Rohren auf Sarrazin, die Islamkritiker und nun Westerwelle geschossen hatte, beschrieb Chefkorrespondent Stefan Klein am 1. März ein langes Gespräch, das er mit Sarrazin in einem Berliner Lokal geführt hat. In seiner Reportage ließ Klein dem Bundesbanker weitgehend Gerechtigkeit widerfahren, obwohl Sarrazin seine umstrittenen Thesen wiederholte – was in der Berliner SPD, die gegen ihr streitbares Mitglied ein Ausschlußverfahren eingeleitet hat, die Wellen der Empörung noch einmal hochschlagen ließ. Eine konsequente redaktionelle Linie hat liberale Blätter noch nie ausgezeichnet.

„Wer die Grundbegriffe der Demokratie behandelt, als wären sie Glaubensartikel, der ist von der Gesinnung ihrer Gegner schon durchdrungen. Deswegen tut es den ‘demokratischen Grundwerten’ gar nicht gut, wenn man sich mit ihnen ‘identifizieren’ soll.“ (SZ)

Auf außenpolitischem Gebiet bahnt sich für die kosmopolitischen Träumer unterdessen die nächste Schlappe an: Während der Aufstieg Chinas beim gleichzeitigen Niedergang der USA Zweifel am angeblichen Erfolgsmodell westlich-parlamentarischer Herrschaft gesät hat, zeigt das absehbare Scheitern in Afghanistan einmal mehr die Fragwürdigkeit des Demokratie-Exports und der „humanitären“ Interventionen auf. Trotz ständiger Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten gelingt es dem Westen nicht mehr, die Welt nach seinem Bilde zu gestalten. Die Zukunft gehört den Schwellenländern, allen voran China, das sich aus eigener Kraft zur jetzt drittstärksten Wirtschaftsnation emporgearbeitet hat.

Vielleicht liegt in dieser betrüblichen Erkenntnis die Erklärung dafür, daß der Peking-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung unter Zugrundelegung hehrer westlicher Maßstäbe Politik und Politiker der Volksrepublik ständig mit alttestamentarischem Furor attackiert und von seinem Gastland ein Bild zeichnet, das oftmals weniger auf Realität als auf geschichtsvergessener Hybris beruht.

Sein Redaktionskollege Andrian Kreye, der gemeinsam mit Thomas Steinfeld das SZ-Feuilleton leitet, hat sich mit den Realitäten weit besser arrangiert. Von der universalen Gültigkeit all dessen, was unverzichtbare Glaubensgrundsätze eines jeden Linksliberalen sind, nahm er Abschied mit den Worten: „Im Westen geht die Wertedebatte prinzipiell davon aus, daß der Wertekanon von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechten etwas ist, das der gesamte Rest der Menschheit ersehnt. Dieser Trugschluß geht von den Denkmodellen des 20. Jahrhunderts aus, in denen Demokratie und freie Marktwirtschaft gegen die verschiedenen Formen des Totalitarismus in Stellung gingen“ (SZ, 4. Januar). Carl Schmitt hatte die Heuchelei liberaler Volksbeglücker etwas präziser gefaßt. „Wer ‘Menschheit’ sagt, will betrügen.“

 

Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Tyrannei des Privaten: „Schamlosigkeit und Dauergeschwätz“ (JF 3/10).

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