© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Geschichtsstunde Kroatien
Nach Belgrader Lesart
Marcus Pohl

Was war bloß in Hans-Dietrich Genscher gefahren? Der dienstälteste Außenminister der Welt, ein den Schatz von Jalta und Potsdam bewachender Fafner im gelben Pullover – dieser Apparatschik schien sich im Herbst 1991 unvermutet in einen diplomatischen Marschall Vorwärts zu verwandeln. War es doch Genscher, der angesichts der explosiven Lage im zerfallenden Jugoslawien auf die rasche völkerrechtliche Anerkennung der Souveränität Sloweniens und vor allem Kroatiens drängte. Mit solcher zuvor nie gezeigten Initiative erntete der Bonner AA-Chef prompt Kommentare seiner westeuropäischen „Freunde“, in denen der harmlose Hallenser zum Designer des „Vierten Reiches“ mutierte.

Viel von dieser Genscher-Schelte hallt in Ulrich Schillers Büchlein über die „jugoslawischen Zerfallskriege“ nach, die in den Neunzigern Europa in Atem hielten und deren strafrechtliche „Aufarbeitung“ noch heute die Haager Justizmühlen klappern läßt. Schiller, Schlesier des Jahrgangs 1926, saß als ARD-Korrespondent lange „auf Posten“ in Belgrad, Moskau und Washington. Vertrautheit mit den Konstellationen des „Kalten Krieges“ darf man dem promovierten Slawisten also so wenig bestreiten wie eine intime Kenntnis der komplizierten Lage auf dem Balkan. Daß gerade die aber bei den Bonner Akteuren gefehlt hätten, als sie Kroatien „vorzeitig“ anerkannten, rechnet ihnen Schiller als „Mitschuld“ an dem Unglück der muslimischen Bosniaken an, die, ohne das deutsche Vorpreschen und die dadurch ermunterte Zagreber „Aggression“, angeblich in den Genuß eines EU-vermittelten „Friedensplans“ gekommen wären.

Daß die von Deutschland seit 1919 über alle politischen Zäsuren hinweg angeblich gehätschelten Kroaten als die Hauptunruhestifter Südslawiens einzustufen seien, dies zu „beweisen“ scheint Schillers über 200 Seiten nie erlahmender Ehrgeiz ebenso zu sein wie die Identifizierung von „Nationalismus“ und „Faschismus“. So figurieren etwa die Repressionen, denen die Kroaten in der serbischen Monarchie bis 1941 ausgesetzt waren, bei Schiller nur als billiger Vorwand ihres „Terrors“. Für den Massenmord in Bleiburg, an mindestens 30.000 Kroaten 1945 verübt von Tito-Partisanen „in einem Rausch von Blut- und Rachedurst“, will der serbophile Apologet Schiller als „Erstschuldigen“ Ante Pavelić, den „Führer“ des kurzlebigen Ustaša-Staates (1941–1945), angeklagt wissen. So erhält man Kapitel für Kapitel Geschichtsunterricht nach Belgrader Lesart.

Ulrich Schiller: Deutschland und „seine“ Kroaten. Vom Ustaša-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus Mit einem Vorwort von Hans Koschnick. Donat Verlag, Bremen 2009, 228 Seiten, 14,80 Euro

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