© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Über seinem Schreibtisch hing ein Lenin-Bild
Zeitzeugenschaft: Der ehemalige DDR-Häftling Siegmar Faust über Robert Havemann, der sich für seine Freilassung einsetzte
Siegmar Faust

Wolf Biermann und Robert Havemann gelten als die wohl prominentesten Dissidenten der DDR. Vor allem Havemann, am 11. März vor hundert Jahren in München geboren, war eine Ikone. Naturwissenschaftler, NS-Widerstandskämpfer, Stalinist, marxistischer Philosoph, Regimekritiker in der DDR unter Hausarrest, eine Vaterfigur unorthodoxer Linker – es ist nicht leicht, Robert Havemann auf einen Nenner zu bringen.

Als ich nach meiner von ihm mitbewirkten lebensrettenden Haftentlassung nach über 400 Tagen Kellerhaft aus dem Zuchthaus Cottbus wie eine Trophäe ihres Sieges in den Biermann-Havemann-Kreis aufgenommen wurde, eröffneten sich mir Provinzler aus dem sächsischen „Tal der Ahnungslosen“ viele neue Aus- und Einsichten. Ja, ich war fasziniert von beiden, obwohl ich bald jene Schattenseiten entdeckte, die Havemanns Sohn Florian, „das uralt kluge Kind“, wie Biermann dem 1971 in den Westen Geflüchteten nachsang, in seiner Tausendseiten-Familiensaga „Havemann“ akribisch auflistete.

Schon vor meiner zweiten Inhaftierung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ war ich kein Marxist mehr, doch die Cottbus-Erfahrungen haben mich die grausame Seite der SED-Macht drastisch spüren lassen. Deshalb befremdete es mich, daß über Havemanns Schreibtisch ein Lenin-Bild hing. An besonders befruchtende Gespräche mit ihm selber kann ich mich kaum erinnern, dafür aber an die mit Lilo und Jürgen Fuchs, die damals samt ihrer beiden Kinder auf Havemanns Grundstück in Grünheide, südöstlich von Berlin, Zuflucht gefunden hatten, um einer Verhaftung in Jena zu entgehen. Doch wie konnte man im Dunstkreis Havemanns vor einer Verhaftung geschützt sein?

Fristlos entlassen nach Veröffentlichung im Westen

Schon als Student war Havemann für die Kommunistische Internationale tätig. Nach 1933 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Widerstandsgruppe „Europäische Union“ gegen die NS-Diktatur. Ein halbes Jahr nach seiner Habilitation als Chemophysiker an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität flog die Gruppe auf, alle wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet – außer Havemann, der im Zuchthaus Brandenburg, wo auch Erich Honecker einsaß, für das Heereswaffenamt vor seiner immer wieder aufgeschobenen Hinrichtung noch „kriegswichtige Forschungen“ betreiben sollte.

So überlebte er Gefangenschaft und Krieg. Danach wird er Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Neukölln in West-Berlin und Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem, wo er bis 1948 Verbindungen zum sowjetischen Geheimdienst unterhält. 1946 bekommt er eine Professur am Physikalisch-Chemischen Institut der Ost-Berliner Humboldt-Universität, deren Direktor er 1952 wird. Seit 1949 Abgeordneter der Volkskammer in Ost-Berlin, tritt er 1951 der SED bei und unterhält ab 1953 zehn Jahre lang enge Verbindungen zur Stasi, was in seiner Biographie natürlich auch „Leichen im Keller“ hinterlassen muß.

Ab 1956, nachdem der spätere sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow bereits auf dem 20. Parteitag der KPdSU in einer Geheimrede den Personenkult um Stalin und dessen Verbrechen offenbarte und ein „Tauwetter“ einleitete, begann Havemanns Wandlung vom Stalinisten zum Dissidenten. Seine kritische Vorlesungsreihe 1963/64 über „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ an der Humboldt-Universität erreicht Kultstatus. Daraufhin wird er aus der SED ausgeschlossen, aus seinem Amt gedrängt und bekommt Hausverbot für die Universität.

Die letzte Chance, seine Berufung zum hauptamtlichen Leiter der Arbeitsstelle für Photochemie der Akademie der Wissenschaften, verdirbt er sich mit der Veröffentlichung seiner Vorlesungen „Dialektik ohne Dogma“ in der Bundesrepublik. Die Zeit veröffentlicht 1965 Havemanns Artikel „Ja, ich hatte Unrecht. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde“. Daraufhin wird er wieder fristlos entlassen und endgültig fallengelassen.

Von nun an veröffentlicht er nur noch im Westen: Artikel, Interviews und Bücher. Da sie ihm weder sein Seegrundstück in Grünheide noch seine Rente von monatlich 1.700 Mark als aktiver Widerständler gegen das NS-Regime wegnehmen, beweist ihm das, daß er den Status eines Unantastbaren erreicht hat. Andere wären unbarmherzig in den Zuchthäusern verschwunden. Doch gegen einen vom NS-Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tod Verurteilten hatten die SED-Bonzen Beißhemmungen, ebenso gegen Wolf Biermann, den einzigen Sohn des Ernst-Thälmann-Genossen und Juden Dagobert Biermann, der 1943 in Auschwitz ermordet worden war.

Am 1. September 1976 wurde ich in den Westen entlassen, nachdem ich ein halbes Jahr lang nach der zweiten Haftentlassung im Biermann-Havemann-Kreis ausgehalten wurde und beide mit meiner prowestlichen und antikommunistischen Haltung enttäuscht haben muß. Als ich in den Westen ging, war ich für sie „gestorben“. Anderthalb Monate darauf durfte Biermann nach elf Jahren Auftrittsverbot eine Einladung der IG Metall annehmen und in Köln auftreten.

Ausbürgerung Biermanns löst einen Proteststurm aus

Der Kommunist Biermann beginnt das Konzert am 13. November 1976 mit seinem Propagandalied „So oder so, die Erde wird rot“. Fast 7.000 Zuhörer in der ausverkauften Kölner Sporthalle begeistern sich, ohne rot zu werden. Er rezitiert, diskutiert, singt und erzählt von seinem Freund Havemann. Der Liederabend wird vom WDR-Hörfunk live übertragen. Aus geplanten zwei Stunden werden vier. Viele Bewohner der DDR hören die Sendung. Als Biermann dann heimtückisch ausgebürgert wird, überträgt das ARD-Fernsehen das Konzert in voller Länge. Sein Bekanntheitsgrad steigt sprunghaft an.

Nun protestiert über die Westmedien nicht nur sein alter Freund Havemann, sondern die Proteste vieler Schriftsteller und Künstler türmen sich zu einem Tsunami auf. Havemann wird zwar „nur“ mit Hausarrest und später mit Geldstrafen genervt, aber wirkungsvoller ist es, seinen Schützling Fuchs aus seinem Auto heraus zu verhaften. Nach neun Monaten wird dieser nach dem Westen abgeschoben; er starb 1999 wie kurz zuvor schon der Philosoph Rudolf Bahro und der Liedermacher Gerulf Pannach an Leukämie. Soviel Zufall gab es selten.

Im Unterschied zu anderen Dissidenten, die zumeist aufgrund eigener Zuchthauserfahrungen oder gegen sie gerichteter „Zersetzungsmaßnahmen“ der Stasi sich in ihrer Ablehnung des SED-Regimes radikalisierten, änderte Havemann in seinem Grünheidener „Luxusknast“ (Biermann) seine Haltung zur DDR jedoch kaum. Noch 1980, zwei Jahre vor seinem Tod,  äußerte er: „Die Genossen und Funktionäre der SED einschließlich der Genossen im Politbüro sind nicht Feinde und Gegner, gegen die ein unversöhnlicher Kampf geführt werden muß.“

Sowjetische Widerständler wie Andrej Sacharow oder Alexander Solschenizyn, die politisch reifer waren als Havemann, stempelte er als Renegaten und „kritiklose Bewunderer des Westens“ ab. Andererseits durchschaute er die DDR selber als einen „Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie, mit fast absolutistischer Herrschaft eines einzigen Mannes an der Spitze, mit stufenweise einander untergeordneter Herrschaftsebenen von Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvögten“.

Havemann verbanden mit den Peinigern seiner oft jungen Freunde, denen er helfen wollte, noch immer die gleichen Utopien und antiwestlichen Feindbilder. Er wollte lediglich einen humaneren Sozialismus, nicht wissen oder glauben wollend, daß es einen solchen aufgrund des utopisch-marxistischen Geschichts- und Menschenbildes nicht geben kann, was später selbst Biermann eingesehen hat.

Aus Dubceks Scheitern 1968 die Lehren gezogen

Dennoch gehört er, mit all seinen Widersprüchen, zu den herausragenden Figuren der jüngeren deutschen Zeitgeschichte. Es bleibt unvergessen, daß sich Havemann 1980 – im Gegensatz zu vielen Linken im Westen – für die polnische Solidarność-Bewegung und für eine unabhängige DDR-Friedens- und Ökologiebewegung engagierte. Er hatte durch Dubčeks Scheitern 1968 begriffen, daß ein Wandel nicht am Rande, sondern im Zentrum der Macht einsetzen müßte. Im November 1989 rehabilitierte das letzte Aufgebot der SED ihn mit der Erklärung, er habe „zum damaligen Zeitpunkt politisch richtige Einschätzungen und Wertungen der Politik der Partei vorgenommen“.

 

Siegmar Faust, Jahrgang 1944 wurde in der DDR zweimal wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt und 1976 von der Bundesregierung freigekauft. Von 1996 bis 1999 war er sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Heute lebt er als freier Publizist in Berlin.

Foto: Robert Havemann (l.) und Wolf Biermann 1972 in dessen Ost-Berliner Wohnung: Marxistische Opposition gegen das SED-Regime

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