© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Sowjetische Interpretation der Geschichte übernommen
Lettland: Sogenannte Antifaschisten wollen erneut das nationale Gedenken am 16. März in Riga stören / Legionäre als Kriegsverbrecher verunglimpft
Paul Leonhard

Im lettischen Riga darf erneut nicht der Kriegstoten gedacht werden. Die Stadtverwaltung untersagte alle Veranstaltungen am 16. März in der Nähe des Freiheitsdenkmals (JF 13/09). Ob zumindest der von den lettischen Weltkriegsveteranen geplante Gottesdienst im Dom zu Riga stattfindet, ist derzeit noch unklar. Für den Fall, daß die Veteranenorganisation Daugavas Vanagi ihre traditionelle Kundgebung vor Gericht erstreitet oder sich nicht an das Verbot hält, hat Josifs Korens, Vizechef des Lettischen Antifaschistischen Komitees (LAK), bereits Proteste angekündigt. Man dürfe nicht zulassen, daß „SS-Nazi-Kollaborateure“ gefeiert werden.

Gemeint sind damit die Toten der beiden lettischen Waffen-SS-Divisionen. Etwa 110.000 Letten und 70.000 Esten haben während des Zweiten Weltkrieges in eigenen Divisionen in der Waffen-SS gekämpft. Allerdings wollten die meisten nicht zum Endsieg Deutschlands beitragen, sondern eine erneute Besetzung ihrer Heimat durch die Sowjetunion verhindern. Aufgestellt wurden die Divisionen 1943 (die 15. lettische) bzw. 1944 (die 19. lettische und 20. estnische) aus bestehenden Freiwilligen-Brigaden.

Im katholischen Litauen fand ein Aufruf zum Eintritt in die Waffen-SS hingegen kaum Echo, für ein Schutzkorps Litauen meldeten sich dagegen im Februar 1944 gleich 19.000 Freiwillige. Allerdings war in Litauen auch die deutsche Politik am widersprüchlichsten. Je nach dem Spielraum, den die Deutschen dem litauischen Militär einräumten, stieg oder sank die Zahl der Freiwilligen. Letztlich verteidigten zwei litauische Regimenter bei dem Dorf Papilė ihre Heimat gegen die Sowjets.

Zu den Überlebenden gehörte der spätere litauische Präsident Valdas Adamkus. Als Schüler hatte er zunächst eine Widerstandsgruppe gegen die Deutschen aufgebaut und war dann im Sommer 1944 mit seinen Eltern vor der nahenden Roten Armee nach Deutschland geflüchtet. Im Herbst kehrte er nach Litauen zurück, um in der litauischen Legion gegen die Russen zu kämpfen. „Aus heutiger Sicht war das der reine Wahnsinn“, sagte Adamkus einmal der FAZ. „Aber damals war das reiner Idealismus. Wir haben nicht viel nachgedacht, man mußte doch Litauen verteidigen.“

Legionärstag aus der Liste staatlicher Feiertage entfernt

Aus ähnlichen Beweggründen kämpften die meisten Balten, sie fühlten sich als nationale Kämpfer gegen den Bolschewismus. Angesichts einer sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands wollten sie ihre Länder nach einem deutschen Rückzug mit eigenen Kräften gegen die Russen bis zur deutschen Kapitulation halten. Ihre trügerische Hoffnung war: Die Westmächte würden die Unabhängigkeit des Baltikums wie nach dem Ersten Weltkrieg garantieren.

Nach der Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit 1990 erinnerten sich speziell Letten und Esten dieser Veteranen. Es wurden Denkmale und Friedhöfe errichtet und sogar Urnen von inzwischen in Übersee oder Deutschland verstorbenen Legionären in die Heimat zurückgeholt. Im März 2003 nahmen Tausende an der Einweihung eines Friedhofs für 11.000 gefallene lettische Legionäre teil. In Lettland ist der 16. März ein wichtiges nationales Datum. Er erinnert an eine erfolgreiche Abwehrschlacht vom 16. bis 19. März 1944, bei der die Letten am Fluß Welikaja (Mudava) der Roten Armee Paroli bieten konnten. Es war das erste Mal, daß beide lettische Waffen-SS-Divisionen zusammen unter lettischem Kommando kämpften.

Die Daugavas Vanagi begeht diesen Tag seit 1952 (www.daugavasvanagi.org). Nach der Wiedergründung Lettlands wurde er zum zentralen Gedenktag für den Freiheitskampf. Bis 2001 wurde der 16. März auf staatlicher Ebene begangen. Dann strich die damalige (bis 1998 in Kanada lebende) Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga auf russischen und israelischen Druck den Legionärstag aus der Liste staatlicher Feiertage.

Gleichzeitig versuchen selbsternannte „Antifaschisten“, die Legionäre als Kriegsverbrecher zu verunglimpfen und gewaltsame Ausschreitungen zu provozieren. 2005 kam es zu Straßenblockaden, 2006 und 2007 zu Straßenschlachten. Im vergangenen Jahr war der Gedenkmarsch von der Stadtverwaltung aus Sicherheitsgründen verboten, das Gedenken dann aber unter starkem Polizeischutz geduldet worden.

Die Gleichsetzung der lettischen und estnischen Waffen-SS mit den nationalsozialistischen Verbrechen ärgert den (unter der Sowjetherrschaft geborenen) neuen Präsidenten Valdis Zatlers. „Kein einziger lettischer Legionär war ein Nazi oder gehörte der nationalsozialistischen Partei an“, erklärte der aus der Unfallchirurgie in die Politik gewechselte 54jährige kürzlich in einem Radio-Interview. Die Weltgemeinschaft verstehe nicht alle Nuancen der lettischen Geschichte. Für die Balten sei unbegreiflich, daß das westliche Europa, das sie erst an die Deutschen und dann an die Russen verraten habe, in der Frage des Widerstands einfach die sowjetische Interpretation übernimmt.

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