© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Die Blutspur des Selbstschutzes
Die Ermordungen polnischer Zivilisten durch die Miliz der „Volksdeutschen“ im Herbst 1939 war ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht
Matthias Bäkermann

Die Meldung, die der Erste Adjutant Ludolf-Hermann von Alvensleben Mitte September 1939 an seinen Chef, den Reichsführer SS Heinrich Himmler, abgab, läßt aufschlußreiche Einblicke in die Verhältnisse der jüngst eroberten Gebiete im Polenfeldzug zu: „Die Arbeit macht, Reichsführer, wie Sie sich ja denken können, eine riesige Freude. (…) Andererseits ist es, SS-mäßig gesehen, sehr schlecht. Einmal ist dies rassisch bedingt, andererseits ist gut ein Drittel aller Deutschen getötet. Sie sind nicht erschossen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes geschlachtet. Die Brutalität und Gemeinheit ist nur aufgrund der minderwertigen Rasse möglich. Hochschwangeren Frauen wurden mit dem Bajonett die Leiber aufgeschnitten, andere wieder an Scheunentore genagelt, gevierteilt usw. Dann mußten die Angehörigen sehr oft bei diesen Ermordungen zusehen. (…) Leider wird nicht so durchgegriffen, wie es nötig wäre, und zwar liegt das an den sogenannten Kriegsgerichten und an den Ortskommandanten der Wehrmacht, die Reserveoffiziere und aufgrund ihrer bürgerlichen Berufe zu schwach sind.“

Rachegefühle gepaart mit völkischem Rassismus

Die „Arbeit“, die der Sproß einer anhaltinischen Adelsfamilie und langjährige NS-Aktivist von Alvensleben in dieser Meldung an Himmler beschreibt, war die Leitung des „Volksdeutschen Selbstschutzes“, der zwischen September und November 1939 in den vor 1919 zu Deutschland gehörenden Gebieten Polens sein Unwesen trieb. Die im Schreiben deutlich werdende Vermischung von berechtigtem Vergeltungsbedürfnis gegenüber den Massenmorden, die während der antideutschen Pogrome Anfang September 1939 verübt wurden, völkischen und rassischen Überlegenheitsgefühlen und einem fatalen Selbstverständnis, Brutalität vor Recht gegenüber „Minderwertigen“ durchsetzen zu können, leitete eine mörderische Unterdrückungspolitik der neuen Herren gegenüber den besiegten Polen ein.

Das galt vor allem in den unmittelbar nach Beendigung des fünfwöchigen Polenfeldzugs (am 6. Oktober kapitulierten letzte Teile der polnischen Armee nördlich von Lublin) dem Deutschen Reich zugeschlagenen neuen „Reichsgauen“ Danzig-Westpreußen und Wartheland, wo der besatzungsrechtliche Status der Wehrmachts-Militärbezirke Westpreußen und Posen am 26. Oktober 1939 in eine „Zivilverwaltung“ der NS-Gauleiter Albert Forster und Arthur Greiser überführt wurde. Das Gespann Forster/Greiser, in den dreißiger Jahren dominierende Politiker der NSDAP im Senat der Freien Stadt Danzig, setzte in diesem Bewußtsein seine Volkstumspolitik fort, um „die Wiedereingliederung alten ostdeutschen Kulturbodens“ mit „notwendiger Strenge und Härte“ zu vollziehen und „die letztendliche Besiedelung der wiedergewonnenen deutschen Ostgebiete mit ausschließlich deutschen Menschen“ einzuleiten, wie Greiser 1941 seine Aufgabe beschrieb.

Wer war dieser „Volksdeutsche Selbstschutz“, der gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Pfade des Kriegsvölkerrechts so eklatant verließ und das Bild einer auf „saubere“ Kriegführung determinierten Wehrmacht mit traditionellem militärischen Ehrenkodex, der von einer Mißhandlung und Tötung von Zivilisten absah, trüben konnte? „Primärquellen sind spärlich“, konstatieren die Autoren des bislang am weitesten in die Thematik eindringenden Werkes über diese Miliz („Der ‘Volksdeutsche Selbstschutz’ in Polen 1939/40“), das 1992 in der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Band 64) herausgegeben wurde, die aber leider lange vergriffen ist. Der Bochumer Historiker Christian Jansen und sein Kollege Arno Weckbecker hatten damals ein Projekt weitergeführt, das auf Adalbert Rückerl, den Leiter der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, zurückging. Dieser hatte umfangreiche deutsche und polnische Dokumente zusammengetragen, die jedoch eher eine punktuelle Aufarbeitung individueller Verbrechen zulassen und weniger in die Struktur eindringen konnten.

Anders als Jochen Böhler, Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau, in seinem Buch „Auftakt zum Vernichtungskrieg“ (Frankfurt 2006) behauptet, war der „Volksdeutsche Selbstschutz“ keinesfalls eine „zentral organisierte Einheit“. Vielmehr beklagen Rückerl, Jansen und Weckbecker gerade das Fehlen einer Organistionsstruktur oder gar einer Befehlskette zwischen der SS-Führung und einzelnen Gliedern, das spontane Agieren völlig heterogener Abteilungen und die verhältnismäßig kurze Existenz der Miliz von nur wenigen Wochen als Hindernisse bei der historischen Aufarbeitung.

In Polen war man sich in der Definition des Selbstschutzes dagegen bereits in den fünfziger Jahren sehr sicher (Józef Skorzyński: „Selbstschutz – Fünfte Kolonne“, Warschau 1958) und sah in ihm eine seit 1919 auf „dem Boden kernpolnischen Gebietes“ – gemeint waren die in Versailles Polen zugesprochenen preußischen Provinzen Westpreußen und Posen – agierende „Fünfte Kolonne“ und ein späteres „politisches Werkzeug“ der Nationalsozialisten in Polen, ähnlich der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins in der Tschechoslowakei vor 1938.

Belege für diese These konnten indes nie präsentiert werden. Obwohl die seit 1919 in Polen unterdrückte deutsche Minderheit, deren Anzahl sich durch verschiedenste Repressionsmaßnahmen und erzwungene Abwanderung nach Deutschland von etwa 1,5 Millionen bis 1939 auf knapp 400.000 dezimierte, auch oder gerade deshalb „im Reich“ ihre potentielle Schutzmacht wahrnahm, ließen im Frühjahr 1939 die verstärkten diskriminierenden Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen gegenüber den verbliebenen Volksdeutschen keinerlei Schaffung organisatorischer Strukturen mehr zu – von einer paramilitärischen gar nicht zu sprechen.

SS-General von Alvensleben als Mann fürs Grobe

Tatsächlich scheint die Version über die Gründung des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ plausibler, die der Chef des SS-Ergänzungsamtes, Gottlob Berger, bei den Nürnberger Prozessen 1946 zu Protokoll gab. Demnach sei Himmler von Hitler Anfang September 1939 mit der „sofortigen Aufstellung einer Heimwehr“ beauftragt worden, „als Folge der Wehrmachsberichte, nach denen mehr als 12.000 Deutsche getötet und verschleppt worden waren“. Diese sollte aus Volksdeutschen rekrutiert, mit polnischen Beutewaffen ausgerüstet werden und unter Kontrolle der SS stehen.

Mit der Einsetzung des SS-Oberführers und Himmler-Vertrauten Ludolf-Hermann von Alvensleben ab dem 9. September als Leiter des Selbstschutzes wurde letzteres auch umgehend exekutiert. Der großgewachsene und eloquente „Bubi“ von Alvensleben galt in seiner landsknechthaften Art als „Mann fürs Grobe“, der sich bereits in der nationalsozialistischen „Kampfzeit“ vor 1933 einen Namen gemacht hatte.

In den Gebieten mit volksdeutscher Minderheit – vorwiegend in grenznahen Regionen, in Westpreußen zwischen Bromberg und Thorn, aber auch in Zentralpolen um Lodsch – stießen die eintreffenden SS-Kader jedoch auf unterschiedliche Voraussetzungen. Teilweise übernahmen von der Wehrmacht rekrutierte Volksdeutsche nur administrative Aufgaben wie Wachschutz oder dienten als Übersetzer. Anderenorts hatten sich unmittelbar nach der Eroberung der Wehrmacht bereits Volksdeutsche formiert, um gegen die Mörder der antideutschen Pogrome vorzugehen, so in Bromberg unter dem Selbstschutz-Führer Josef Meier, genannt „Blutmeier“. In der Stadt zwischen Weichsel und Netze hatten die „Bromberger Blutsonntag“ genannten Ausschreitungen ihren Anfang genommen, denen schätzungsweise bis zu 8.000 deutsche Zivilisten zum Opfer fielen. Täter waren neben Angehörigen der polnischen Armee hauptsächlich fanatische, aus Bahn- oder Verwaltungsbeamten bestehende Milizen, oft beteiligte sich aber auch der lokale polnische Mob an den Gewaltexzessen. Der „Selbstschutz Meier“ wiederum nahm grausame Rache, indem umgehend tatsächliche, aber auch nur verdächtigte oder unliebsame Personen bei willkürlichen Erschießungen getötet wurden.

Schnell wuchsen besonders in Westpreußen die Todesschwadronen personell an, vorwiegend rekrutiert aus Volksdeutschen, allerdings auch extern verstärkt, zum Beispiel mit Angehörigen der Danziger „SS-Heimwehr“. Jansen und Weckbecker schätzen ihre Stärke auf bis zu „100.000 wehrfähige Männer“, wobei sie sich allerdings auf Zahlen stützen, mit denen die SS das Rekrutierungspotential unter diesen Volksdeutschen abschätzte, was nicht gleichzeitig auf eine Teilnahme am Selbstschutz schließen lassen muß.

Schnell gingen die Milizen dazu über, ihre als „Vergeltungsmaßnahmen“ deklarierten und von der NS-Propaganda über den „Bromberger Blutsonntag“ angeheizten Mordaktionen auch auf „mißliebige“ Polen – meistens Priester, Juristen und Intellektuelle – auszudehnen. Im Raum Schwetz und Rippin sind auch Ermordungen speziell von Juden bezeugt. Obwohl sich in Wehrmachtsstäben Klagen über diese Praxis häuften, reagierte man dort passiv. Beim Oberkommando des Heeres bestand man weiterhin darauf, daß „in Unternehmungen des Selbstschutzes“ nicht einzugreifen sei. Am 11. November verbot von Alvensleben in einer Dienstbesprechung mit verschiedenen Selbstschutz-Führern schließlich weitere Exekutionen.

Daß es bis zur endgültigen, per Erlaß von Himmler zum 30. November verfügten Auflösung des Selbstschutzes zu zahlreichen Hinrichtungen gekommen ist, belegt die nie vollständig gelungene Strukturierung der Milizen seitens der SS-Führung. Die Zahl der polnischen Opfer, die diese jedem Verständnis von Kriegsvölkerrecht widersprechenden Mordaktionen gekostet haben, kann bis heute nur geschätzt werden. Den 12.000 bis 20.000 Toten sollten jedoch noch viele folgen, die den danach einsetzenden Maßgaben einer kompromißlosen Volkstumspolitik in den neuen „Reichsgauen“ ausgesetzt waren.

Fotos: Polnische Opfer von Erschießungskommandos; ein Volksdeutscher identifiziert im Kriegsgefangenenlager Schirotzken im Kreis Schwetz einen Täter vom „Bromberger Blutsonntag“: „Die Brutalität und Gemeinheit ist nur aufgrund der minderwertigen Rasse möglich“

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