© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

„Bis hierher hat mich Gott gebracht“
Käßmann-Nachfolge: Mit Präses Nikolaus Schneider an der Spitze rückt die Evangelische Kirche in Deutschland weiter nach links
Christian Vollradt

Der neue Mann an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) heißt Nikolaus Schneider, bisher Vize der am Mittwoch vergangener Woche zurückgetretenen Margot Käßmann. Der Rat der EKD kürte den 62 Jahre alten Theologen auf seiner Tagung im bayerischen Tutzing zu seinem amtierenden Vorsitzenden, der diese Funktion vorerst bis zur ordentlichen Neuwahl auf der Synode im November versehen wird. Der Präses – so der einem Landesbischof vergleichbare offizielle Titel – der rheinischen Landeskirche steht damit der Gesamtheit der rund 24,5 Millionen protestantischen Kirchenmitglieder in Deutschland vor.

Politisch auftretender Seelsorger

Schneider, 1947 als Sohn eines Stahlarbeiters in Duisburg geboren, war nach seiner Ordinierung zunächst Pfarrer in Duisburg-Rheinhausen. Er engagierte sich 1987 bei den Protesten der Krupp-Arbeiter gegen die Schließung des dortigen Stahlwerks. Spätestens seit dieser Zeit gilt er als „sehr politisch“ auftretender Seelsorger. Zu seinen Schwerpunktthemen zählt Schneider „Arbeit, Armut und Arbeitslosigkeit“. Den „Willen Gottes“ interpretierte er einmal als Forderung, „so zusammenzuleben, daß es sozial und gerecht zugeht, daß die Kleinen nicht unter die Räder kommen“. Als ausgemacht gilt daher, daß die EKD-Spitze damit politisch (wieder) weiter nach links rückt, als sie es unter Käßmann und erst recht in der Spätphase der Ära Wolfgang Hubers war. Als seine vorrangigen Themen nannte Schneider Friedenspolitik sowie „Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft“.

Die Präses der Synode, Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), lobte denn auch Schneiders „sozialethische Kompetenz und außerordentlich große Herzenswärme“. Daß der rheinische Präses sich 2007 in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger kritisch zum Bau der Moschee in Köln-Ehrenfeld äußerte, die er „imperial und anmaßend“ nannte, entsprang wohl weniger einer Kritik an der multikulturellen Zuwanderungsgesellschaft als ganz offensichtlich seinem kritisch-theologischen Unbehagen an einer Religion mit absolutem Wahrheitsanspruch: Man habe hierzulande gelernt, daß „die Religion dem Staat nicht mehr vorgibt, wie er zu handeln hat“. Immerhin gestand Schneider zu, daß die Gestaltung einer Moschee auch davon abhänge, „was die Menschen in ihrer Mehrheit hinzunehmen bereit sind“. Das habe nichts „mit einer Beschneidung von Religionsfreiheit zu tun“ und gelte auch beim Bau von Kirchen.

Daß Schneider zunächst nur vorläufig die Leitung der EKD übernommen hat, hielt Göring-Eckardt nicht davon ab, sich medienöffentlich zu „freuen, wenn die Zusammenarbeit mit Nikolaus Schneider über den Herbst hinausreichte“. Dies beinhaltet eine klare Ansage an die Synodalen, von ihrem freien Wahlrecht nur innerhalb dieser Wunschoption Gebrauch zu machen; alles andere käme schließlich einer Brüskierung Schneiders und seiner prominenten Fürsprecherin gleich. Angesichts des empfindlichen Proporzes im deutschen Protestantismus – vor allem zwischen lutherisch und uniert – nimmt es nicht wunder, daß sogleich zwei Stimmen anhoben, die vermeintliche Unabhängigkeit der kommenden EKD-Synode zu betonen: zum einen der sächsische Landesbischof Jochen Bohl, zum anderen sein bayerischer Amtsbruder Johannes Friedrich. Beide sind – wie Käßmann – Lutheraner, und es dürfte ihnen keineswegs egal sein, daß mit Schneider nach dem kurzen lutherischen Intermezzo fast nahtlos im Anschluß an die lange Amtsperiode des Unierten Wolfgang Huber wieder ein solcher die EKD repräsentiert.

Unterdessen wandte sich die wegen ihrer Trunkenheitsfahrt zurückgetretene Margot Käßmann in einem Brief an das Kirchenvolk, der am vergangenen Sonntag in den Gottesdiensten aller Mitgliedsgemeinden der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers verlesen wurde. Darin schrieb die 51 Jahre alte Theologin, es tue ihr leid, daß sie mit ihrem Rücktritt viele Menschen enttäuscht habe. Ihr Amtsverzicht sei unabwendbar gewesen. „Die Freiheit, ethische und politische Herausforderungen zu benennen und zu beurteilen, hätte ich in Zukunft nicht mehr so, wie ich sie hatte.“ Käßmann dankte in ihrem Schreiben „allen Menschen in den Gemeinden unserer Landeskirche, die mich so wunderbar getragen und gestützt und für mich gebetet haben“. Zu ihrem interimistischen Nachfolger an der Spitze der hannoverschen Landeskirche wurde der Lüneburger Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen bestellt. Käßmann erklärte jedoch, sie werde weiter Pastorin in ihrer Landeskirche bleiben.

Desungeachtet schießen mittlerweile Spekulationen ins Kraut, die Autofahrt in alkoholisiertem Zustand sei nicht das wahre Motiv für Käßmanns Rücktritt gewesen. Tatsache ist, daß die Polizei die Personalien des (offiziell) unbekannten männlichen Beifahrers aufgenommen hat, der somit in einem Strafverfahren gegen die Theologin als Zeuge herangezogen werden könnte. Seine Identität wäre dabei nicht länger geheimzuhalten, wäre Käßmann noch Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende. Mit ihrem Rücktritt von beiden Ämtern hätte sie immerhin die Chance, das Verfahren – und damit die Identität des Beifahrers – unter Verweis auf ihre Privatsphäre leichter vor dem öffentlichen Interesse abschirmen zu lassen.

Die ehemalige Lübecker Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter machte dagegen „Sexismus“ für den Rückzug ihrer Amtsschwester verantwortlich: „Wir haben noch nicht das Recht, genauso viele Fehler zu machen wie die männlichen Kollegen.“ Es gebe noch immer Gruppen in der Kirche, „die Frauen in Führungspositionen nicht anerkennen“, sagte sie gegenüber Spiegel Online. Wartenberg-Potter nannte die Entscheidung Käßmanns „in der Sache unverhältnismäßig“, sie sei jedoch Ausweis ihres Mutes und ihrer „integeren Persönlichkeit“.

Der Rat der EKD, der am vergangenen Dienstag Käßmann zunächst sein „ungeteiltes“ Vertrauen ausgesprochen hatte, verlieh unterdessen seiner Hoffnung Ausdruck, daß die ehemalige Bischöfin „eine wichtige Stimme im deutschen Protestantismus“ bleibe.

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