© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

„Wir müssen unsere Gebieter erziehen“
Bildungsreformen: Forsters Erziehungsgesetz ebnete Englands Aufbruch in die pädagogische Moderne
Heinz-Joachim Müllenbrock

Im Februar 1870 wurde von der liberalen Regierung Gladstone im Londoner Unterhaus eine Gesetzesvorlage eingebracht, die in ein bahnbrechendes Erziehungsgesetz einmündete, den nach seinem Architekten W. E. Forster benannten Education Act. Das Forstersche Elementarschulgesetz revolutionierte das englische (und walisische) Erziehungswesen, indem zum ersten Mal in der Geschichte des Landes verfügt wurde, daß jedes Kind imstande sein müsse, eine Schule zu besuchen. Der Staat erkannte es fortan als seine gesetzliche Pflicht an, für Elementarschulbildung zu sorgen und zugleich die Aufsicht darüber zu übernehmen, die Local School Boards (Ortsschulverwaltungen) übertragen wurde.

So bescheiden diese Bestimmungen aus heutiger Sicht anmuten, einen so gewaltigen Einschnitt bedeuteten sie für die Entwicklung des englischen Erziehungswesens. Das macht ein Blick auf die bis dahin vorherrschenden Verhältnisse deutlich. Matthew Arnold, besser bekannt als Dichter und Kulturkritiker, ging als Schulinspektor noch davon aus, daß die Zahl der ohne schulische Erziehung aufwachsenden Kinder genauso hoch lag wie die Zahl derjenigen, die eine Schule besuchten. Das Ausmaß des Analphabetentums war erschreckend; 1867 konnten dreißig Prozent der Bevölkerung in Großstädten sich nicht mit ihrem Namen ins standesamtliche Register eintragen! Im frühviktorianischen England schränkten die herrschenden Klassen, durchdrungen vom Geist des in Jeremy Bentham verkörperten Utilitarismus, die Elementarschulerziehung auf ein Mindestmaß ein, wurden doch Kinder als billige Arbeitskräfte in der Wirtschaft benötigt. Nicht wenige Eltern hielten ihre Kinder aus Eigennutz vom Schulbesuch fern.

Doch nicht nur die Tyrannei der Nützlichkeit stand Bildungsreformen im Wege, auch andere Hemmnisse waren zu überwinden. So betrachtete man im Sinne eines doktrinären Freiheitsstandpunkts staatliche Eingriffe in die Erziehung mit Mißtrauen, die ebenfalls ganz nach den Grundsätzen des laissez faire behandelt werden sollte – Samuel Smiles’ antiintellektuelle, auf Selbsthilfe und Charakterformung setzende Abhandlung „Self-Help“ (1859) gehörte zu den populärsten Büchern im viktorianischen England. Nicht zuletzt blockierte die religiöse Aufspaltung des Landes in Anglikaner und Nonkonformisten großzügige nationale Regelungen.

Angesichts dieser Sachlage ist die Annahme nicht unplausibel, daß ein politischer Umstand als wesentlicher Katalysator bei der Aufgabe der staatlichen Zurückhaltung in Erziehungsangelegenheiten mitwirkte: das zweite (nach 1832), von dem Konservativen Disraeli auf den Weg gebrachte Wahlrechtsreformgesetz von 1867. Es verschaffte insbesondere den gelernten städtischen Arbeitern das Wahlrecht und sorgte für eine Demokratisierung des Parlamentssystems. Jedenfalls meinte Robert Lowe, zuvor in einer Kommission des Kronrats für Erziehungsfragen zuständig, jetzt resigniert: „Wir müssen unsere künftigen Gebieter erziehen.“ Die Verantwortlichkeit des Staates für die Erziehung seiner stark angestiegenen wahlberechtigten Bevölkerung war offenkundig geworden. Auch der Aufstieg Preußens im europäischen Mächtekonzert, der vor allem seiner guten Allgemeinbildung zugeschrieben wurde, trug dazu bei, daß die herrschenden Klassen nun willens waren, mehr Verantwortung für einen lange sträflich vernachlässigten Bereich zu übernehmen.

Die mühselige parlamentarische Prozedur zur Verabschiedung des Gesetzes, das im August 1870 das königliche Plazet erhielt, ließ insbesondere die religiösen Gegensätze wieder aufbrechen, die dafür verantwortlich waren, daß – wie häufig in der Geschichte Englands  – nur ein Kompromiß erreicht werden konnte. So einigte man sich mittels der sogenannten Cowper-Temple-Klausel darauf, daß in den staatlichen Schulen kein konfessioneller Religionsunterricht erteilt werden dürfe. Eine herbe Enttäuschung bedeutete Forsters Gesetz für die den linken Flügel der Liberalen Partei bildenden, überwiegend nonkonformistischen Radikalen. Sie nahmen vor allem Anstoß an der sogar verdoppelten staatlichen Bezuschussung der anglikanischen Schulen und hielten das Gesetz für eine halbherzige Maßnahme, weil sie für ein einheitliches, rein staatliches Bildungswesen eintraten.

Die vorsichtige Fortführung der Forsterschen Reform, die ein duales System der englischen Elementarschulerziehung mit separat finanzierten und beaufsichtigten privaten, meist konfessionellen Schulen (independent schools) und lokalen staatlichen Schulen (state schools) installiert hatte, zeigte aber, daß der Education Act von 1870 eine solide Grundlage für die weitere Entwicklung geschaffen hatte. Bereits 1880 wurde der Schulzwang gesetzlich festgeschrieben, und 1890 wurde das gesamte Elementarschulwesen der Aufsicht staatlicher Inspektoren unterstellt. Die Errichtung eines eigenen Ministeriums für Erziehung (Board of Education) im Jahre 1899 gab dem erhöhten Stellenwert von Bildungsangelegenheiten sinnfälligen Ausdruck.

Mit Balfours Education Act von 1902 schließlich wurde auch dem Elementarschulwesen der Weg ins 20. Jahrhundert geebnet. Das Gesetz schaffte im ganzen Land die lokalen School Boards ab, die für viel zu kleine Einzugsgebiete zuständig waren, und übertrug die Verantwortung für das gesamte Schulwesen den gewählten County Councils und größeren Borough Councils; mit der Durchführung konkreter Regelungen wurden die noch heute bestehenden regionalen Bildungsbehörden (Local Education Authorities) betraut.

Die erfreuliche Entwicklung des vermehrt modernen Erfordernissen Rechnung tragenden englischen Elementarschulwesens wäre nicht möglich gewesen ohne Forsters Pioniertat, die eine neue Epoche der Bildungsplanung einläutete. Der Historiker G. M. Trevelyan hat gesagt, daß England ohne die Erziehungsgesetze von 1870 und 1902 in der Ära industriellen Wettbewerbs nicht konkurrenzfähig gewesen und seine städtische Bevölkerung in Barbarei versunken wäre.

Forsters Erziehungsgesetz hatte allerdings einen ironischen Nebeneffekt. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal von einer des Lesens und Schreibens mächtigen Gesamtbevölkerung ausgegangen werden konnte, nahm die jetzt entstehende Massenpresse mit Alfred Harmsworth (später Lord Northcliffe) als sinistrem Leitstern – 1896 begann mit der Gründung der Daily Mail als Auflagenrenner sein phänomenaler Aufstieg zum Pressezar – die neuen Lesehungrigen unter ihre weit ausgebreiteten Fittiche. Diese Zeitungsbranche lockte die neuen Leserschichten mit dem kurzen Atem sensationeller Nachrichten und kurzen Sätzen ohne syntaktische Schwierigkeiten („Written by office-boys for office-boys“, lautete Lord Salisburys berühmte Spöttelei über diese Art von Schrifttum). So bedurften die gerade erst aus dem Analphabetentum Befreiten im Grunde bald erneuter Emanzipation.

Der damaligen journalistischen Revolution ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die elektronische Revolution gefolgt – mit vielleicht noch nachteiligeren Konsequenzen für Bildungsbestrebungen. Laut Auskunft einer aktuellen englischen Studie kann heute die Hälfte der Bevölkerung weder richtig lesen noch schreiben; nach einer anderen Erhebung sind acht Millionen Erwachsene im Vereinigten Königreich des Lesens und Schreibens unkundig. Die verheerenden Auswirkungen des permanenten Fernsehkonsums auf Lese- und Schreibfähigkeit sind längst nachgewiesen. Andere elektronische Verlockungen tun das Ihrige, um die von Aldous Huxley bereits vor achtzig Jahren prognostizierte Verkümmerung des Menschen durch technizistischen Firlefanz Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Befreiungsschlag wie das Forstersche Erziehungsgesetz von 1870 ist jedenfalls nicht in Sicht.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Samuel Johnson (JF 39/09).

Fotos: Schulunterricht in England, 1935: Der Lehrer erläutert die Gefahren von Giftpflanzen; William Edward Forster

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