© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

Totentänze unterm Stroboskop
Aus der Hölle menschlicher Existenz: Was den Blogger Airen von Helene Hegemann unterscheidet
Harald Harzheim

Seit der Plagiatsdebatte um Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ ist der „virtuelle Dichter“ Airen vom Szene-Tip zum „Blogbuster“ aufgestiegen. Dabei sind die Texte des 29jährigen Unternehmensberaters, der nachts als Mr. Hyde den Berliner Technoclub Berghain unsicher machte, eine unabhängige Lektüre wert. Zumal Hegemanns und Airens Tenor sich stark voneinander unterscheiden: Ist „Axolotl Roadkill“ eher aggressiv, mit Splatter- und Ekel-Metaphern durchsetzt, fährt Airen mit ironischem Verbal-Stoizismus durch die Schlachtfelder der Drogen-, Alkohol- und Pornoexzesse. Der Titel der Textsammlung – „Strobo“ – spielt darauf an, daß seine Wahrnehmung unter dem Reiz-Trommelfeuer „wie ein Stroboskop“ flackert.

Reflexive Federung erfährt das Erlebte im Kapitel über „Die Kunst des Fallens“. Darin präsentiert Airen sein Nachtleben als großen Rausch des Vergessens: für Menschen, die ab Mitte Zwanzig „nichts mehr vom Leben (erwarten). Das kommt vom ständigen Auf-die-Fresse-Fallen. Irgendwann will man gar nicht mehr aufstehen. Einfach nur liegen bleiben. Und am besten nicht hochschauen.“ So wird man unverwundbar: „Ich hab kein Geld und muß zwei Wochen von Billigfraß leben? Freß ich halt zwei Wochen nur Billigfraß.“ Leider kommen „manchmal immer noch so Momente, in denen dieser Schutzschild der Gleichgültigkeit aufreißt und vereinzelte Hoffnungsschimmer hereinläßt. So ein bißchen Glück. So hell, daß es schmerzt.“

So kommen Airens Blogtexte direkt aus der Hölle menschlicher Existenz, deren Dunkelheit noch das Angenehmste scheint. Auf seinen Parties wird auf Leben und Tod gefeiert, da traut sich kein Vertreter der „Spaßgesellschaft“ hin. Anders als Rainald Goetz, der literarische Partylöwe der achtziger und neunziger Jahre, steht Airen in der Tradition jener Nacht-Dichter, die am Beginn des 20. Jahrhunderts den „heroischen Nihilismus“ ausriefen.

Jedoch war für Airen dieses Leben auf Kamikaze-Kurs nur Durchgangsphase, die in den Armen seiner mexikanischen Freundin endgültige Ausbremsung fand. Nicht jedem blüht solch Happy-End. Der Philosoph, DJ und „heroische Nihilist“ Q.R.T. – der diesen Begriff für die Generation der Neunziger fruchtbar machte – starb mit 29 Jahren an einer Überdosis Heroin. Andere tanzen ihren Totentanz jahrzehntelang.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen