© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/10 19. Februar 2010

Widerstand durch Depression
Krise des modernen Freibeutertums: Helene Hegemann als Kind des Zeitgeists
Harald Harzheim

Nicht die „sweet sixteen“, sondern die „wilde Siebzehn“ ist eine magische Zahl im Literaturbetrieb – und das seit anderthalb Jahrhunderten. Erinnern wir uns: 1871, nach Beteiligung an der Pariser Kommune, startete der lyrische Orkan Arthur Rimbaud so richtig durch. Ganze 17 Jahre war er alt, mit 19 verstummte er wieder. 1920 schrieb Raymond Radiguet seinen Skandalroman „Le Diable au Corps“ (Der Teufel im Leib), vom Verlag als „das erste Werk eines 17jährigen Romancier“ beworben. Das geschah 1923, da war der junge Wilde bereits tot. Rimbaud und Radiguet markieren den Beginn einer Epoche, die das Ursprüngliche, frisch Revoltierende, Elementare verehrt. Niemals gießt das Leben soviel Feuer in die Adern wie in diesen Jahren. Ein kurzes Feuerwerk nur – glücklich der, dessen Ausdruckskraft dann schon voll entwickelt ist. Und die immer gleiche Reaktion der Kritik: schrille Bewunderung hier, moralische Empörung und ästhetische Abwertung dort.

Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bedienen auch weibliche Adoleszente den Mythos jugendlicher Elementargewalt. Gleich der erste Star dieses Trends, Danielle Sarréra, erwies sich als literarischer „Betrug“. Als siebzehnjährige Dichterin, die sich 1949 vor den Zug warf, hinterließ sie in ihrer Pariser Dachwohnung ein schizoid-geniales Werk – literarische Alpträume, in deren Zentrum ein düsterer „Schädelbohrer-Ritter“ wütet. Postum veröffentlicht, in Deutschland unter dem Titel „Arsenikblüten“ bei Matthes & Seitz, sorgte es Mitte der Siebziger für solidarische Selbstmordwellen unter Gleichaltrigen. Später gestand der Herausgeber, Frédérick Tristan, die Werke selbst verfaßt zu haben. „Danielle Sarréra“ habe nie existiert, sei nur ein Pseudonym seiner Anima gewesen. Jedenfalls traf sein Mythos die Sehnsucht des Zeitgeists.

1997 eroberte die damals siebzehnjährige Bozener Dichterin Bettina Galvagni die Herzen des deutschen Feuilletons. „Melancholia“, das Romandebüt der mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Lyrikerin, erlangte Kultstatus: eine aufwühlende Verzweiflungsprosa, die eigene Depression, unerfüllte Liebe zu einem Psychiater mit altgriechischen Mythen und Heidegger mixte. Doch das war’s dann auch. Galvagnis zweiter Roman, „Persona“ (2002), ging relativ lautlos über die Bühne.

War die Bozener Pythia eher elitär, sich als Ausnahmemensch stilisierend, holte die siebzehnjährige Helene Hegemann mit ihrem im Ullstein-Verlag erschienenen Debüt „Axolotl Roadkill“ (2010) zum Zeitporträt aus: eine Einübung in die Verzweiflung, vor der Kulisse des Berliner Technoszene-Clubs Berghain, der nicht zufällig als das „Bayreuth von Friedrichshain“, als „Festspielhaus in ostdeutscher Brache“ (Julia Spinola) gilt: Hier gibt’s Konzerte, Drogen und schnellen Sex – ein Universum voll aggressiver Leere.

Nach den „Jungen Braven“ wollte man Frischfleisch

Es war auch langsam Zeit! Nach der Generation der „Jungen Braven“ von Stuckradt-Barre bis Kehlmann – nur kurzzeitig aufgeschreckt durch das „Crazy“-Romandebüt des siebzehnjährigen Benjamin Lebert – sehnten sich gelangweilte Feuilletonisten nach Frischfleisch mit Widerstandskraft. Zugleich war man ausreichend desillusioniert, um deren Unmöglichkeit zu erahnen. Da bot Helene Hegemann die letztmögliche Variante: Widerstand durch Depression. Ihre jungen Ausgebrannten sind für eine Karriere- und Verwertungsgesellschaft schlicht unbrauchbar, verweisen auf die dunkle Seite des Wellness-Ideals: den Aufstieg der Depression zur Volkskrankheit – dargestellt von einer Autorin, die trotzdem genug Feuer hat, destruktive Dynamik in eine mitreißende Form zu pressen.

Aber genau hier beißt sich die Punk-Ratte in den (kahlen) Schwanz: Helene Hegemanns Frust-Revolte war bei den Älteren derart erwünscht, daß ihre Sprengkraft weggejubelt wurde. Die Rezensionen waren prall gefüllt mit Vitalitäts-Metaphern: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erkannte, daß es ein Romandebüt „von solcher Kraft“ lange nicht gegeben habe. „Ein Kugelblitz in Prosaform und Prosasprache“, jubelte die Zeit. Der Spiegel freute sich über die Suchdynamik der Autorin, die zu „überraschenden Gedanken“ führe. Kurzum, „ein Phänomen“ (Süddeutsche Zeitung).

Helene Hegemann avancierte rasch zur – stellvertretenden – Wunscherfüllerin der ewigen „Generation Mitläufer“. Bester Beleg ist ihr Vater Carl Hegemann, ehemals Chefideologe der Berliner Volksbühne, inzwischen Privatdramaturg von Christoph Schlingensief: Der schenkte seiner wilden Tochter nämlich höchstselbst jene Texte, die in „Axolotl Roadkill“ ungenannt Verwertung fanden. So wurde sie Sprachrohr eines Vaters, dessen Widerstandstheorien in den Bleiwüsten seiner Programmhefte versanden. Also, bestätigt ihr Beispiel nur die Unmöglichkeit heutigen Widerstands?

Nicht ganz. Denn letzte Woche platzte ein Skandal ins euphorische Feuilleton: Das neue Wunderkind hatte Passagen des Romans paraphrasiert und abgeschrieben. Die Reaktionen waren vielfältig: Man hob bestürzt Zeigefinger, schüttete hämische Sprüche aus wie „Jugend klaut“ (Tagesspiegel) und entmündigte sie rückwirkend (wie Thomas Steinfeld in der Süddeutschen). Thomas Brussig fand Hegemanns Handlung „wirklich peinlich“, Helmut Krausser („Diebstahl ist Diebstahl, da bin ich sehr konservativ“) attestierte ihr „wenig Reflexion und eine gewisse Wollust am Selbstbetrug“, andere entschuldigten sie mit zeitgenössischer Sampling- und Collagetechnik.

Entnommen waren die Passagen zum Teil wortwörtlich aus dem Büchlein „Strobo“, erschienen im kleinen Berliner Sukultur-Verlag und verfaßt von einem Internetblogger unter dem Pseudonym „Airen“. Daß der seinerseits betroffen reagierte, das läßt sich nachvollziehen. Auch daß man diese Entdeckung publiziert und ein, zwei Tage nachlegt. Aber die Debatte läuft bereits knapp zwei Wochen, und kein Ende ist zu erwarten. Rüdiger Schaper brandmarkt im Tagesspiegel völlig zu recht diese „feuilletonistische Hexenverbrennung“.

Woher diese unbarmherzige Wutenergie der Schreiber? Wenn Banken die Milliarden ihrer Kunden im globalen Casino verspielen, müssen dann wenigstens Revoltendichter sauber bleiben und sich an den Spielregeln orientieren? Selbst der skrupelloseste Pleitemanager wurde nicht derart öffentlich (und genüßlich) seziert wie diese junge Frau.

Sicher, das macht bei einem weiblichen Teenager ja auch viel mehr Spaß. Außerdem, wer sich moralisch im Recht weiß, glaubt sich zu endlosen Sadismen berechtigt. Selbst mancher Hegemann-„Verteidiger“ fährt diese Schiene, indem er zum Beispiel ihr Zitieren zum  schulkindlichen „Abschreiben“ (Berliner Zeitung) degradiert. Und so lamentiert man wochenlang über etwas, das schon Thomas Mann, Heiner Müller, Sergio Leone bis Quentin Tarantino auszeichnet(e): Übernahme ohne Nachweis. Bei Tarantino ist das Aufspüren von Verweisen sogar zum Cineastensport geworden. Wer hat sein endloses Zitieren je „attackiert“ oder „verteidigt“? Vielleicht ging Jungstar Hegemann auch nicht weit genug? Womöglich hätte sie anstelle des dünnen Airen besser den satten Günter Grass bestohlen? So wäre immerhin ein Robin-Hood-Effekt entstanden.

Kein Pleitemanager wurde derart genüßlich seziert

Jedenfalls blieb die Endlosdebatte nicht ohne Folge: Laut Internet-Umfrage der Welt halten 79 Prozent der Teilnehmer die Zitation für eine „Frechheit“. Und auf der Twitter-Netzseite beweist sich das (Leser-)Volk wieder zuverlässig als Mob. Ähnliches widerfuhr 1990 auch dem bekennenden Collageur Walter Kempowski, dessen Roman „Aus großer Zeit“ der Stern-Autor Harald Wieser zur Plagiatsaffäre aufblies.

Ergo, einziger Gewinner dieser Debatte ist – Airen. Sein „Strobo“ ist inzwischen vergriffen und wird im Ullstein-Verlag nachgedruckt. In Interviews äußert er sich besorgt, daß der Pressetrubel seine Anonymität bedrohe. Andererseits läßt sich der – inzwischen zum Unternehmensberater avancierte – Blogger zum Interview bitten und findet es ungerecht, daß Harald Schmidt bei seiner letzten Show Helene Hegemanns „Buch zehnmal in die Kamera gehalten (hat) und meines überhaupt nicht“.

Wenige Tage später will der – trotz Max-Ophüls-Preis – unbekannte Filmemacher Benjamin Teske in einer Hegemann-Kurzgeschichte „auffallende Parallelen“ zu seinem Film „Try a little Tenderness“ entdeckt haben. Jedoch war sein Fall nach zwei Tagen publizistisch abgehakt. Inzwischen glätten erste Schlichtungsstimmen die Wogen. Außerdem wurde die junge Autorin in der Kategorie Belletristik für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Bleibt zu hoffen, daß die Jury ihre Bewertung ausschließlich an literarischen Aspekten orientiert und nicht Frustration über globale Enteignungen und eigene Emotionsdefizite auf die Siebzehnjährige projiziert.

Fotos: Helene Hegemann: Wunscherfüllerin der „Generation Mitläufer“, Hegemann-Buch: Stein des Anstoßes

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