© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/10 12. Februar 2010

Gelbe Radikalkur
Gesundheitsprämie: Minister Rösler kämpft für sein wichtigstes Reformprojekt / Diskussion um Zusatzbeitrag und Kopfpauschale
Jens Jessen

Jede Gesundheitsreform wird mit dem Aufkleber versehen, daß die Beitragserhöhungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein Ende haben sollen. Das derzeit kritisierte Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) der Großen Koalition sollte sogar zu einer Senkung der GKV-Beiträge führen (JF 44/06). In allen Fällen ist das Gegenteil eingetreten. Millionen gesetzlich Versicherter müssen 2010 Zusatzbeiträge an die GKV abführen. Die Suche nach den Schuldigen dafür lenkt den Verdacht – je nach politischer Orientierung – mal auf die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser, mal auf die Ärzteschaft, mal auf die Kassen.

Die Mechanismen, die zwangsläufig zu Beitragserhöhungen führen, wollen weder Versicherte noch Politiker zur Kenntnis nehmen. Ältere Menschen sind öfter, länger und häufig ernsthafter krank als junge. Chronische Krankheiten bedürfen dauernder Behandlung. Solange die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre in dieses medizinisch teure Segment hinein „altern“ und gleichzeitig die Lebenserwartung steigt, nimmt die Zahl der über 65jährigen zu. Zusätzlich soll der medizinische Fortschritt finanziert werden – daher steigt der Finanzbedarf. Daß jetzt Millionen GKV-Mitglieder mehr zahlen müssen, kann weder den Leistungserbringern noch den Kassen angehängt werden.

Der 2009 gestartete Gesundheitsfonds hat Zusatzbeiträge für den Fall vorgesehen, daß eine Kasse mit dem ihr zugewiesenen Geld nicht auskommt. Sie kann dann entweder bis zu acht Euro pro Monat Aufschlag ohne Einkommensprüfung vom Versicherten erheben oder, wenn sie mehr zum Ausgleich benötigt, nach Prüfung des sozialversicherungspflichtigen Haushaltseinkommens bis maximal ein Prozent Zusatzbeitrag verlangen (JF 6/10). Das war jedem Fachkundigen bekannt. Die Große Koalition hatte die Zusatzbeiträge sogar herbeigewünscht, da so der Wettbewerb unter den Kassen beschleunigt würde. Dieser Wunsch hat sich jedoch bisher nicht erfüllt, da die Zusatzprämien noch kein zuverlässiger Indikator für Wettbewerb im Gesundheitswesen sind. Bleiben werden nur die höheren Beiträge und eine Zunahme der Kasseninsolvenzen.

Wer sparen will, muß sagen, auf welche GKV-Leistungen verzichtet werden soll. Politiker verweisen dann gelegentlich auf „die Pharmaindustrie“ – ansonsten bleiben sie äußerst unkonkret. Das Defizit der Kassen war für Regierung wie Opposition absehbar, allein schon wegen der 2009 erfolgten Senkung des GKV-Einheitsbeitrags von 15,5 auf 14,9 Prozent. Schätzungsweise 16 Milliarden Euro muß Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) daher in diesem Jahr als Steuerzuschuß in den gemeinsamen Topf der Krankenkassen überweisen.

Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag findet sich dennoch kein konkreter Vorschlag, das Defizit zu vermindern. Wenn nichts geschieht, wird 2011 noch mehr Geld aus Steuermitteln in den Gesundheitsfonds abgeführt werden. Nach der Riester-Rentenreform und den sogenannten Hartz-Reformen steht jetzt eine grundlegende Gesundheitsreform auf der Tagesordnung.

Bleibt es beim jetzigen System einkommensabhängiger GKV-Beiträge, wird die aktiv arbeitende Bevölkerung über kurz oder lang durch die steigenden Kassenbeiträge massiv geschröpft. Das kann nicht gutgehen. Zahlt der GKV-Versicherte allein die steigenden Beiträge, geht die Schere zwischen Brutto und Netto immer weiter auseinander. Wächst der Arbeitgeberbeitrag mit und steigen so die Lohnkosten, dann bedeuten Beitragssatzanstiege die Gefährdung von Arbeitsplätzen, was die Finanzierungsbasis der Kassen noch weiter aushöhlen würde.

Der zuständige Minister Philipp Rösler will daher einen großen Schritt wagen: „Wenn es mir nicht gelingt, ein vernünftiges Gesundheitssystem auf den Weg zu bringen, dann will mich keiner mehr als Gesundheitsminister haben. Davon gehe ich fest aus“, erklärte der FDP-Politiker. Er scheint fest entschlossen, die bisherigen einkommensabhängigen Versicherungsbeiträge von den Arbeitskosten zu entkoppeln und eine Prämie (auch „Kopfpauschale“ genannt) einzuführen, deren Höhe für alle GKV-Beitragszahler gleich und daher unabhängig vom Einkommen ist. Genaues ist bislang nicht bekannt, das soll eine Regierungskommission liefern. Im Koalitionsvertrag ist nur die Rede von „einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden“. Der Arbeitgeberanteil von sieben Prozent des Bruttoverdienstes soll festgeschrieben werden. Wie sich eine GKV-Reform für die über 20 Millionen Rentner auswirkt, ist völlig unklar.

Bislang geistern sehr unterschiedliche Zahlen über die Prämienhöhe durch die Medien. Der Duisburger Gesundheitsökonom Jürgen Wasem sprach beispielsweise in der Welt (bei durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben von heute knapp 200 Euro im Monat) von einer Pauschale von 100 bis 110 Euro – wenn auch die 22 Millionen bislang beitragsfrei Versicherten zusätzlich einzahlen und der Arbeitgeberbeitrag weiter an die Kassen fließt. Eine Modellrechnung des IGES-Instituts für Gesundheits- und Gesellschaftsforschung für das Handelsblatt kam auf eine Gesundheitsprämie von 140 bis 154 Euro – wenn Kinder und nicht erwerbstätige Ehepartner weiter beitragsfrei versichert wären, also wie bisher nur etwa 50 Millionen der insgesamt 72 Millionen GKV-Versicherten Beiträge zahlen. Die Kosten für den Sozialausgleich für Bezieher niedriger Einkommen summieren sich laut IGES auf 22 Milliarden Euro.

Realistische Berechnungen hat es aber schon 2004 gegeben, als die CDU nach ihrem Leipziger Parteitag ähnliche Vorstellungen propagierte, die sich durch das Einknicken vor der SPD innerhalb der Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2005 aber nicht durchsetzen ließen. Laut einer damaligen Berechnung des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) führen die Verteilungswirkungen einer solidarischen Gesundheitsprämie nicht zu neuen sozialen Ungerechtigkeiten.

Bei einer seinerzeit realistischen Einheitsprämie von 180 Euro würde zwar ein Abteilungsleiter den gleichen GKV-Beitrag wie ein Hilfsarbeiter zahlen. Da in der GKV 2004 aber nur Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze von rund 3.500 Euro im Monat beitragspflichtig waren, trug ein „Besserverdienender“ sowieso nur bis zur dieser Höhe zum GKV-Sozialausgleich bei. Bei einem Bruttogehalt von 1.300 Euro mußte ein GKV-Mitglied 2004 einen Kassenbeitrag von 186 Euro bezahlen. 93 Euro wurden vom Gehalt abgezogen, 93 zahlte der Arbeitgeber. Da der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung aber beim damaligen Modell ausgezahlt werden sollte, hätte sich das Bruttoeinkommen auf 1.393 Euro erhöht. Die Steuer auf die zusätzlichen 93 Euro hätte 5,50 Euro ausgemacht.

Für Einkommen unter 1.300 Euro und für bislang beitragsfrei mitversicherte Ehepartner war ein steuerlicher Sozialausgleich vorgesehen, der eine Überforderung der Geringverdiener verhindern sollte. Dies und die Prämien für bislang mitversicherte Kinder hätten laut ZEW 28 Milliarden Euro Steuerzuschuß erfordert. Dagegen zu rechnen waren gestiegene Lohn- bzw. Einkommensteuereinnahmen in Höhe von etwa 17 Milliarden Euro, die durch die direkte Auszahlung des Arbeitgeberbeitrags an die Arbeitnehmer in die Staatskasse fließen sollten. Dem Finanzminister blieb die Aufgabe, etwa elf Milliarden Euro für die GKV zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Der Sozialausgleich im Steuersystem hätte die „Besserverdienenden“ überdurchschnittlich belastet. Was daran unsozial sein soll, ist schleierhaft.

Doch die CSU und Teile der CDU wollen das wohl nicht verstehen. Sie behaupten, die „Kopfpauschale“ sei „weder gerecht noch finanzierbar“. SPD, Grüne und Linke fordern weiter einen Ausbau der GKV zur „Bürgerversicherung“, für die alle Bürger mit ihrem gesamten Einkommen beitragspflichtig wären, also auch die bislang etwa 8,6 Millionen Privatversicherten. Das dürfte verfassungsrechtlich kaum durchsetzbar sein.

Foto: Wartezimmer mit Patienten: Der Sozialausgleich soll künftig über höhere Einkommensteuern erfolgen

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